Friederike Römer und Jakob Henninger haben untersucht, wie sich die Ziele von NGOs, die sich für Sozialleistungen für Migrant*innen engagieren, zwischen Demokratien und Autokratien unterscheiden. Die Ergebnisse erläutern sie im Interview."Choose your battles. How civil society organisations choose context‐specific goals and activities to fight for immigrant welfare rights in Malaysia and Argentina" heißt das neue Paper von Jakob Henninger und Friederike Römer, veröffentlicht in Social Policy & Administration. Was sie dabei genau untersucht und herausgefunden haben, erläutern sie in diesem Interview.
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Für alle, die das Paper noch nicht gelesen haben: Könnt ihr eure wichtigsten Ergebnisse in aller Kürze zusammenfassen?
Friederike Römer: In unserem Paper untersuchen wir, wie sich zivilgesellschaftliche Organisationen – also zum Beispiel Nichtregierungsorganisationen, aber auch Gewerkschaften – für den Zugang von Migrant*innen zu Sozialleistungen einsetzen. Wir vergleichen Argentinien mit Malaysia, und damit eine Demokratie mit einem Land, das zumindest bis vor kurzem als elektorale Autokratie eingestuft wurde. Wir haben uns gefragt: Welche Strategien verfolgen diese Organisationen? Genauer, welche Ziele setzen sie sich? Und wie werden sie aktiv? Dabei haben wir festgestellt, dass zwischen den beiden Fällen große Unterschiede bestehen: In Argentinien haben die Organisationen ambitioniertere Ziele verfolgt, nämlich die Inklusion von Einwander*innen in die ganze Bandbreite der Sozialleistungen – also auch solcher Leistungen, die keine vorherigen Versicherungsbeiträge erfordern. In Malaysia hingegen war das Engagement eher beschränkt auf bestimmte beitragsfinanzierte Leistungen. Die Inklusion etwa in das steuerfinanzierte Armutsbekämpfungsprogramm anzustreben, war nie Teil der Strategie.
Jakob Henninger: Wir konnten zeigen, dass der Kontextfaktor „politisches System“ zumindest einen Teil dieser Unterschiede erklären kann. In beiden Ländern gibt es Aktivist*innen, die sich für die Inklusion von Migrant*innen einsetzen. Allerdings sind zivilgesellschaftliche Organisationen in Argentinien besser in politische Prozesse eingebunden. Sie hatten also andere Ressourcen und Möglichkeiten, auf politische Entscheidungen Einfluss zu nehmen. Aber auch die Art der Argumentation hat sich unterschieden: In Argentinien wird häufig auf Menschenrechte Bezug genommen, und diese werden im Sinne einer Gleichstellung zwischen Migrant*innen und der einheimischen Bevölkerung interpretiert. Bezüge auf Menschenrechte finden sich zwar auch in Malaysia – dort aber eher als Forderung, minimale Standards einzuhalten.
Ihr argumentiert, dass die CSOs ihre Ziele und ihre Aktivitäten in Abhängigkeit vom Regimetyp wählen. Könnte es nicht sein, dass sie ihre Ziele und Aktivitäten auch mit Blick auf die Werte und die allgemeine Stimmung in Bezug auf Migrant*innen in der Mehrheitsbevölkerung ausrichten? Worauf ich hinaus möchte: Wie stellt ihr sicher, dass der jeweilige Regimetyp ursächlich für die Unterschiede der CSO ist und nicht andere Faktoren, die ihr nicht untersucht habt?
Jakob Henninger: Natürlich unterscheiden sich diese beiden Fälle. Wichtig ist aber, dass sie sich auch in vielen entscheidenden Gesichtspunkten ähneln. Beide Länder haben eine lange Migrationsgeschichte, die bis ins 19. Jahrhundert zurückreicht und die Gesellschaften bis heute prägt. Heutzutage gehören sie zu den Hauptempfängerländern von Migration in ihrer jeweiligen Region und manche Wirtschaftszweige sind stark abhängig von migrantischer Arbeit. Ebenso weisen die Sozialstaaten der beiden Länder Gemeinsamkeiten auf, auch wenn sie nicht gleich sind: Beide waren lange auf beitragsfinanzierte Leistungen fokussiert, haben aber jüngst vermehrt Leistungen eingeführt, die nicht von Beitragszahlungen abhängen. So können wir zumindest einige Faktoren als Erklärung für die Unterschiede ausschließen.
Basierend auf theoretischen Vorüberlegungen formuliert ihr in der Einleitung des Papers einige Erwartungen, sie sich dann durch die Empirie bestätigen (z.B. dass CSOs in Demokratien tendenziell das Ziel der Gleichstellung von Migrant*innen verfolgen, während sie CSOs in Autokratien tendenziell das Ziel der Sicherung der Grundbedürfnisse von Migrant*innen erreichen wollen). Gab es auch Dinge, die euch überrascht haben?
Friederike Römer: Wir hatten erwartet, dass sich die Aktivitäten der Organisationen deutlich unterscheiden. Wir hätten gedacht, dass sich die malaysischen Organisationen eher darauf konzentrieren, in Notsituationen konkrete Hilfe zu leisten, während die argentinischen Organisationen eher einen Fokus auf politische Interessenvertretung legen. Als wir aber die Selbstbeschreibungen der Organisationen analysiert haben, haben wir gemerkt, dass die Unterschiede auf den ersten Blick nicht sehr groß waren. Das hat uns überrascht. Beispielsweise gaben in beiden Ländern ähnlich viele Organisationen an, politische Interessenvertretung zu betreiben, oder als Rechtsbeistand für Migrant*innen aktiv zu sein. Bei genauerem Hinsehen sind dann aber doch Unterschiede zutage getreten: In Malaysia berichteten uns Aktivist*innen, wie schwierig es ist, überhaupt Treffen mit Vertreter*innen von Ministerien zu arrangieren. In Argentinien werden Arbeitsgruppen zu den Rechten von Migrant*innen mitunter direkt von den Ministerien organisiert und die Vertreter*innen der Zivilgesellschaft werden dazu offiziell eingeladen. Ähnlich interessant ist, was in den beiden Kontexten unter Rechtsbeistand zu verstehen ist. Während Organisationen in Malaysia dabei helfen, bestehendes Recht umzusetzen und etwa Forderungen für Entschädigungszahlungen an Arbeitgeber geltend zu machen, haben argentinische Organisationen zum Teil versucht, bestehendes Recht als verfassungswidrig zu markieren und letztendlich also gesetzliche Grundlagen zu ändern, etwa wenn es um das Recht auf Leistungen bei verminderter Erwerbsfähigkeit geht.
Eurer Paper trägt den schönen Titel „Choose your battles“ und deutet die Interpretation eurer Ergebnisse an. Könnt ihr darauf näher eingehen? Welche Rolle spielen z.B. die Elemente Effizienz (also dass CSOs nur realistisch erreichbare Ziele anstreben) und die Positionierung gegenüber Instanzen staatlicher Macht (u.a. drohende Repressionen/Auswirkung auf Finanzierungsquellen) bei der Wahl der Ziele und Aktivitäten der CSOs?
Jakob Henninger: Sowohl Überlegungen zu Effizienz wie auch die strategische Positionierung gegenüber staatlicher Macht sind wesentliche Faktoren, die Organisationen bei der Wahl ihrer Strategie beeinflussen. Den Organisationen stehen zum einen begrenzte Ressourcen zur Verfügung, sodass sie ihre Ziele priorisieren müssen. Daher überlegen sie sich genau, welche Probleme sie angehen und welche nicht. Zum anderen müssen sie darauf achten, dass ihre Vorschläge anschlussfähig sind – beides gilt für beide Kontexte.
Friederike Römer: In einem autokratischen Kontext wie Malaysia ist allerdings die Sorge vor repressiver Staatsgewalt ganz anders relevant, als das in Argentinien der Fall ist. Unsere malaysischen Interviewpartner*innen berichten davon, dass sie Vorsichtsmaßnahmen ergreifen, um sich und die Migrant*innen, mit denen sie arbeiten, zu schützen. In Argentinien dagegen sind konfrontative Strategien durchaus üblich. Hier würden wir wieder unterstreichen, dass die Ursache für diese Unterschiede im politischen Regime zu suchen ist.
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Lesen Sie das vollständige Paper (Open Access):
Jakob Henninger, Friederike Römer: Choose your battles. How civil society organisations choose context‐specific goals and activities to fight for immigrant welfare rights in Malaysia and Argentina. Social Policy & Administration, 2021, online first: https://doi.org/10.1111/spol.12721
Kontakt:Dr. Jakob HenningerDeZIM e.V.
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jakob.henninger@uni-bremen.deDr. Friederike RömerDeZIM e.V.
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