News aus dem Teilprojekt B09


Neue Sonderausgabe in "Global Social Policy" erschienen

John Berten und Anna Wolkenhauer haben eine Sonderausgabe zum Thema "Reflexivity in Global Social Policy" in der Zeitschrift Global Social Policy herausgegeben, die nun erschienen ist. In der Ausgabe, die aus einer Einleitung, fünf Papieren, fünf Forumsbeiträgen, sowie einem Digest besteht, beleuchten die Herausgeber*innen und Autor*innen die Bedeutung, Relevanz und Schwierigkeiten einer reflexiven Perspektive auf globale Sozialpolitik. Dies beinhaltet das Sichtbarmachen der Kontingenz von Konzepten und Theorien, eine kritische Diskussion der Positionalitäten und Hierarchien, die das Feld durchziehen, sowie ein besseres Verständnis der Interaktionen zwischen der akademischen Diskussion auf der einen, und der Welt der Politik und Praxis globaler Sozialpolitik auf der anderen Seite. Die Ausgabe ist hier verfügbar: https://journals.sagepub.com/toc/gspa/23/3

Dr. John Berten ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Bielefeld. Er ist Teil des Teams des SFB-Projekts B12, das sich mit Krisenmanagement internationaler Organisationen während der COVID-19-Krise beschäftigt (hier konzentriert er sich auf die Rolle der International Labour Organization). Seine Forschungsinteressen inkludieren die Sozialpolitik internationaler Organisationen und Sozialpolitik im globalen Süden; aktuell erforscht er insbesondere die Rolle von Quantifizierung in der Sozialpolitik (bspw. in Form von Indikatoren), sowie von Zukünften in der globalen Politik.

Dr. Anna Wolkenhauer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im SFB-Projekt B09 zu ländlicher Sozialpolitik in Afrika, in dem sie zu Botsuana und Sambia forscht. Ihre Forschungsinteressen beinhalten Agrarpolitik und Visionen für die Landwirtschaft, soziale Sicherheit, und Wissensproduktion. Zuvor hat sie sich vor allem mit Staatlichkeit nach der neoliberalen Wende und der Rekonstituierung von Staaten durch Sozialpolitik befasst.

Publikationen:

Berten, John. 2022. ‘Producing Decent Work Indicators: Contested Numbers at the ILO.’ Policy & Society 41(4), 458-470.

Berten, John. 2022. ‘The Future as Epistemic Condition: How International Organisations Anticipate Futures of Social Policy.’ Global Society 36(2), 206-222.

Wolkenhauer, Anna. 2023. ‘Everyday sense making and the discursive delineation of social policy space in Zambia.’ In: Social Policy & Administration (online first).

Wolkenhauer, Anna. 2024. ‘Knowing and unknowing the countryside – epistemological implications of rural social policy in Zambia.’ In: Anderl, Felix (ed.): Epistemologies of the Land, Rowman and Littlefield International (forthcoming).


Kontakt:
Dr. John Berten
SFB 1342: Globale Entwicklungsdynamiken von Sozialpolitik, Fakultät für Soziologie
Universitätsstraße 24
33615 Bielefeld
Tel.: +49 521 106-4457
E-Mail: john.berten@uni-bielefeld.de

Dr. Anna Wolkenhauer
SFB 1342: Globale Entwicklungsdynamiken von Sozialpolitik, Institut für Interkulturelle und Internationale Studien
Mary-Somerville-Straße 7
28359 Bremen
Tel.: +49 421 218-57099
E-Mail: anna.wolkenhauer@uni-bremen.de

Eine Gruppe von Forscherinnen des SFB 1342 und der BIGSSS nahm an einem zweitägigen Workshop von Dr. Saskia Schottelius zum Thema "The Art of Self-Presenting for Female Scientists" teil.

Thema des Workshops waren verschiedene Aspekte der Selbstwahrnehmung, des Selbstbewusstseins und der Selbstdarstellung.

Eine Gruppe von Forscherinnen des SFB 1342 und der BIGSSS nahm an einem zweitägigen Workshop von Dr. Saskia Schottelius zum Thema "The Art of Self-Presenting for Female Scientists" teil. Thema des Workshops waren verschiedene Aspekte der Selbstwahrnehmung, des Selbstbewusstseins und der Selbstdarstellung, wobei der Schwerpunkt auf den Herausforderungen lag, mit denen Frauen in akademischen Einrichtungen konfrontiert sind, die traditionell von Männern dominiert werden. Durch theoretische Inputs, praktische Übungen und Peer-to-Peer-Coaching konnten die Teilnehmerinnen über ihre eigenen Stärken und Ziele nachdenken und gleichzeitig von der Zusammenarbeit und Ermutigung durch die Gruppe profitieren. Die zahlreichen Themen, die im Workshop vorgestellt, diskutiert und in Übungen getestet wurden, sollten kontinuierlich weiterhin in der Praxis umgesetzt werden. Die Teilnehmerinnen waren sich einig, dass der Workshop für den weiteren akademischen Weg von großem Vorteil ist.


Kontakt:
Dr. Anna Wolkenhauer
SFB 1342: Globale Entwicklungsdynamiken von Sozialpolitik, Institut für Interkulturelle und Internationale Studien
Mary-Somerville-Straße 7
28359 Bremen
Tel.: +49 421 218-57099
E-Mail: anna.wolkenhauer@uni-bremen.de

Dr. Stephen Devereux, Anna Wolkenhauer, PhD
Dr. Stephen Devereux, Anna Wolkenhauer, PhD
Unser Mercator Fellow Stephen Devereux untersucht die Rolle von Hilfsorganisationen bei der Ausbreitung von Social Protection in Afrika. Devereux hat ein SFB-Working-Paper dazu veröffentlicht und schreibt mit Anna Wolkenhauer zu diesem Thema.

Noch vor 20 Jahren in Afrika fast nicht vorhanden, sind soziale Cash-Transfers, die sich an armen und vulnerable Menschen richten, heute in den meisten Ländern in Subsahara-Afrika etabliert. In seinem SFB-Working-Paper beschreibt Stephen Devereux vier kausale Mechanismen, die in der Literatur als Ursache für die schnelle Einführung von Social-Protection-Programmen in Afrika seit der Jahrtausendwende diskutiert werden - Lernen, Wettbewerb, Nachahmung und Zwang. Devereux konzentriert sich anschließend auf die zentrale Rolle transnationaler Akteure, insbesondere internationaler Entwicklungsagenturen, als "Policy Pollinators" (Bestäuber) im Bereich Sozialschutz. Mit der Einführung von "policy pollination" erweitert Devereux die Literatur über die Verbreitung von Sozialschutz im Globalen Süden um einen fünften Mechanismus. "Diese Agenturen", schreibt Devereux, "setzten eine Reihe von Taktiken ein, um afrikanische Regierungen zur Umsetzung von Geldtransferprogrammen und zum Aufbau von Sozialschutzsystemen zu bewegen, hierzu gehören:

  1. Aufbau der empirischen Beweisbasis, dass Geldtransfers positive Auswirkungen haben;
  2. die Finanzierung von Sozialschutzprogrammen, bis die Regierungen diese Verantwortung übernehmen;
  3. Stärkung der staatlichen Kapazitäten zur Bereitstellung von Sozialschutz durch technische Hilfe und Trainingsworkshops;
  4. Beauftragung und Mitverfassen von nationalen Strategien zum sozialen Schutz;
  5. Förderung der Domestizierung des internationalen Sozialschutzrechts in die nationale Gesetzgebung."


Devereux gibt kein Urteil darüber ab, ob ein gebergetriebener Prozess der Einführung von Sozialschutzprogrammen gut oder schlecht ist. Aber er wirft die Frage auf, inwieweit "die Agenden der Entwicklungsagenturen mit den nationalen Prioritäten übereinstimmen oder in Konflikt stehen, und ob Sozialschutzprogramme und -systeme blühen oder verkümmern würden, wenn die internationale Unterstützung zurückgezogen würde".

Im Moment untersuchen Stephen Devereux und SFB-Mitglied Anna Wolkenhauer die internationalen Entwicklungsagenturen noch genauer, wenn sie bei den afrikanischen Regierungen auf die Einführung von Geldtransferprogrammen drängen. Sie plädieren dafür, individuelle Handelnde und ihre Agenden in den Mittelpunkt der Analyse solcher Politikdiffusion zu stellen. Sie tun dies, indem sie den Prozess der Diffusion von Sozialschutzpolitik in Sambia durch drei individuelle Handelnde analysieren, die zwischen der nationalen und der internationalen Ebene angesiedelt sind.

Devereux und Wolkenhauer haben ihren Paper-Entwurf Mitte Mai auf einem InIIS/CRC 1342-Kolloquium vorgestellt und wertvolles Feedback von Kolleg*innen der Universität Bremen sowie von internationalen Wissenschaftler*innen erhalten. Sie planen, die überarbeitete Version ihres Papers in den nächsten Wochen bei einem internationalen Peer-Review-Journal einzureichen.

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Lesen Sie das Working Paper von Stephen Devereux: Policy pollination. A brief history of social protection’s brief history in Africa


Kontakt:
Dr. Stephen Devereux
Dr. Anna Wolkenhauer
SFB 1342: Globale Entwicklungsdynamiken von Sozialpolitik, Institut für Interkulturelle und Internationale Studien
Mary-Somerville-Straße 7
28359 Bremen
Tel.: +49 421 218-57099
E-Mail: anna.wolkenhauer@uni-bremen.de

In "Social Policy & Administration" haben 7 Teilprojekte des SFB 1342 Fallstudien sozialpolitischer Dynamiken im Globalen Süden vorgelegt. Deren Synthese zeigt: Das Konzept der kausalen Mechanismen ist gut geeignet, solche Entwicklungen zu analysieren.

Sieben Teilprojekte aus dem Projektbereich B des SFB 1342 haben eine Sonderausgabe von "Social Policy & Administration" veröffentlicht: Causal mechanisms in the analysis of transnational social policy dynamics: Evidence from the global south. Die zentrale Forschungsfrage, der die Autor*innen nachgehen, lautet: Welche kausalen Mechanismen können die transnationalen Dynamiken der Sozialpolitik im Globalen Süden erfassen?

Um Antworten auf diese Frage zu finden, präsentieren die Autor*innen vertiefende Fallstudien zu sozialpolitischen Dynamiken in verschiedenen Ländern und Regionen des Globalen Südens sowie in unterschiedlichen sozialpolitischen Feldern. Alle Beiträge konzentrieren sich auf das Zusammenspiel von nationalen und transnationalen Akteuren bei der Gestaltung von Sozialpolitik. (Die Beiträge dieser Special Issue sind unten aufgeführt.)

Die zentralen Erkenntnisse der Autorinnen und Autoren sind:

  • Erklärungen der Sozialpolitik im Globalen Süden bleiben unvollständig, wenn nicht auch transnationale Faktoren berücksichtigt werden
  • Dies bedeutet jedoch nicht, dass nationale Faktoren nicht mehr wichtig sind. Bei sozialpolitischen Entscheidungen sind nationale institutionelle Rahmenbedingungen und Akteure von zentraler Bedeutung
  • Die mechanismusbasierte Forschung kann das Zusammenspiel zwischen transnationalen und nationalen Akteuren und deren Einfluss auf die Gestaltung sozialpolitischer Ergebnisse plausibel nachzeichnen. Die Artikel identifizieren eine Vielzahl von Kausalmechanismen, die dieses Zusammenspiel erfassen können
  • Das Ergebnis sozialpolitischer Entscheidungen ist komplex und kann oft nicht durch einen einzigen Mechanismus erklärt werden. Die Untersuchung der Kombination und des möglichen Zusammenspiels mehrerer kausaler Mechanismen kann tiefer gehende Erklärungen liefern 
  • Das Konzept der Kausalmechanismen kann auch in vergleichenden Analysen angewendet werden
  • Mechanismen können induktiv in einem Fall aufgespürt und dann auf einen anderen Fall übertragen werden.


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Johanna Kuhlmann & Tobias ten Brink (2021). Causal mechanisms in the analysis of transnational social policy dynamics: Evidence from the global south. Social Policy & Administration. https://doi.org/10.1111/spol.12725

Armin Müller (2021). Bureaucratic conflict between transnational actor coalitions: The diffusion of British national vocational qualifications to China. Social Policy & Administration. https://doi.org/10.1111/spol.12689 

Johanna Kuhlmann & Frank Nullmeier (2021). A mechanism‐based approach to the comparison of national pension systems in Vietnam and Sri Lanka. Social Policy & Administration. https://doi.org/10.1111/spol.12691 

Kressen Thyen & Roy Karadag (2021). Between affordable welfare and affordable food: Internationalized food subsidy reforms in Egypt and Tunisia. Social Policy & Administration. https://doi.org/10.1111/spol.12710

Monika Ewa Kaminska, Ertila Druga, Liva Stupele & Ante Malinar (2021). Changing the healthcare financing paradigm: Domestic actors and international organizations in the agenda setting for diffusion of social health insurance in post‐communist Central and Eastern Europe. Social Policy & Administration. https://doi.org/10.1111/spol.12724

Gulnaz Isabekova & Heiko Pleines (2021). Integrating development aid into social policy: Lessons on cooperation and its challenges learned from the example of health care in Kyrgyzstan. Social Policy & Administration. https://doi.org/10.1111/spol.12669 

Anna Safuta (2021). When policy entrepreneurs fail: Explaining the failure of long‐term care reforms in Poland. Social Policy & Administration. https://doi.org/10.1111/spol.12714

Jakob Henninger & Friederike Römer (2021). Choose your battles: How civil society organisations choose context‐specific goals and activities to fight for immigrant welfare rights in Malaysia and Argentina. Social Policy & Administration. https://doi.org/10.1111/spol.12721


Kontakt:
Dr. Johanna Kuhlmann
SFB 1342: Globale Entwicklungsdynamiken von Sozialpolitik
Mary-Somerville-Straße 7
28359 Bremen
Tel.: +49 421 218-58574
E-Mail: johanna.kuhlmann@uni-bremen.de

Prof. Dr. Tobias ten Brink
SFB 1342: Globale Entwicklungsdynamiken von Sozialpolitik, Research IV und China Global Center
Campus Ring 1
28759 Bremen
Tel.: +49 421 200-3382
E-Mail: ttenbrink@constructor.university

Dr. Alex Veit, Dr. Clement Chipenda
Dr. Alex Veit, Dr. Clement Chipenda
Clement Chipenda und Alex Veit analysieren die Entwicklungen der südafrikanischen Agrar- und Nahrungsmittelpolitik am Beispiel von Schulspeisungen und Subventionen. Zu lesen in einem neuen Working Paper.

Ihr Arbeitspapier bietet eine chronologische Analyse der südafrikanischen Ernährungspolitik von der Gründung Südafrikas als halb-autonomer Siedlerstaat bis zur demokratischen Revolution.

Auf Grundlage von Primärquellen aus Archiven und Sekundärliteratur vergleichen Chipenda und Veit zwei Politiken der Ernährungssicherung: Schulspeisungen und Nahrungsmittelsubventionen. In der Zeit zwischen den Weltkriegen wurde Nahrungsmittelknappheit und -unsicherheit ein zunehmendes Problem, wodurch Nahrungsmittelpolitik elementarer Teil des expandierenden Wohlfahrtsstaates wurde. Kostenlose Schulspeisungen waren ein wichtiges Instrument, vom dem alle Kinder profitierten, bis das Apartheid-Regime Ende der 1940er-Jahre an die Macht kam. Das Regime schloss afrikanische Kinder von den Schulspeisungen aus.

Auf den ersten Blick widersprüchlicherweise, blieb ein weiteres ernährungspolitisches Instrument auch unter dem Apartheid-Regime erhalten, von dem alle, also auch afrikanische Bevölkerungsgruppen profitierten, welches im Laufe der Jahre sogar ausgeweitet wurde: allgemeine Nahrungsmittelsubventionen.

Um diese Entwicklungen erklären zu können, analysieren Chipenda und Veit die Figuration aus Akteuren und ihren Interdependenzen:

  • die dominanten, nationalistischen Kräfte des weißen politischen Establishments, die die Verantwortung für das Wohlergehen der afrikanischen Bevölkerung abstritten
  • die liberalen, demokratischen philanthropischen und kirchlichen Gruppen, die die Ernährungssicherheit für alle Bevölkerungsgruppen einforderten
  • Industrielle, vor allem aus dem Agrar- und Rohstoffsektor, die auf die Bedeutung einer gesunden, zahlreichen Arbeitsbevölkerung hinwies.


Die Abhängigkeit der südafrikanischen Agrar- und Rohstoffindustrie von den billigen afrikanischen Arbeitskräften, mag den Ausschlag gegeben haben, die zu einer zentralstaatlichen Regulierung und Subventionierung des Agrar- und Nahrungsmittelmarktes geführt hat. Aber Chipenda und Veit weisen auf die „eigentümliche Figuration“ aus nationalistischen, kapitalistischen, liberalen, philanthropischen Kräften hin, die sich bei der Nahrungsmittelpolitik auf ein gemeinsames Handeln verständigten, wenngleich aus unterschiedlichen Interessen.

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Lesen Sie das gesamte Working Paper: The trajectory of food security policies in South Africa, 1910-1994. The persistence of food subsidies


Kontakt:
Dr. Alex Veit
Dr. Kressen Thyen, Dr. Roy Karadag
Dr. Kressen Thyen, Dr. Roy Karadag
Kressen Thyen und Roy Karadag haben untersucht, warum Tunesien trotz internationaler Kritik an den Subventionen festhält, während Ägypten Reformen vorgenommen hat. Im Interview sprechen sie über ihre Ergebnisse, die sie kürzlich veröffentlicht haben.

Wer profitiert am meisten von den Lebensmittelsubventionen in Tunesien und Ägypten - die Armen oder die Eliten?

Kressen Thyen: Es gibt mehrere Möglichkeiten, diese Frage zu beantworten, nehme ich an. Aber schauen wir uns zunächst einmal an, wie das funktioniert: Die öffentliche Hand hat nach dem Zweiten Weltkrieg in verschiedenen Bereichen gehandelt, um die Preise für Nahrungsmittel zu senken und zu stabilisieren, sei es, indem sie Anreize für die Bauern setzte, Weizen und andere Produkte für die lokalen Märkte zu produzieren, indem sie den Bauern Betriebsmittel zur Verfügung stellte, um diese Produktion zu ermöglichen, und eine Zeit lang sogar durch die Verteilung und Umverteilung von Land an Kleinbauern. Außerdem stabilisierte eine günstige Preispolitik die Gewinnerwartungen von Bauern, Müllern und Händlern und stellte sicher, dass genügend Nahrungsmittel in die Städte geliefert wurden, wo der Großteil dieser Nahrungsmittel konsumiert wird. Während alle diese Wirtschaftsakteure auch von der staatlichen Regulierung der Lebensmittelmärkte profitieren, wären die Hauptnutznießer immer noch die städtischen Armen.

Roy Karadag: Nun, mit dieser Frage kommt man schon zu dem heiklen Aspekt, dass es Systeme der Lebensmittelsubventionierung gibt und wie diese seit den 1980er-Jahren immer stärker kritisiert werden. Und diese Anfechtung lebt mit diesen krassen Gegensätzen, mit den Armen auf der einen Seite und den Eliten auf der anderen Seite. Und seit den ersten Studien, die unter der Aufsicht der Weltbank in den frühen 1980er-Jahren durchgeführt wurden und die akademisch das Feld der Nahrungsmittelsubventionen zum Beispiel in Ägypten bearbeiteten, war das sehr stark im Fokus: die Behauptung, dass Nahrungsmittelsubventionen den Armen nicht so sehr zugute kommen wie den reicheren Menschen.

Kressen Thyen: Das ist natürlich viel komplizierter und lässt sich nicht in diesen allgemeinen Rahmen fassen, denn die Frage des "Nutzens" bedarf definitiv einer weiteren Qualifizierung. Klar ist, dass Menschen und Familien aus mittleren und höheren sozialen Schichten mehr Geld haben und mehr Lebensmittel kaufen können und so absolut durchaus mehr von günstigen Preisen profitieren. In der Sprache des Targeting war das immer schon der zentrale Streitpunkt. Aber da arme Menschen nicht so viel Geld haben, sind sie viel mehr auf diese billigen Preise angewiesen, um für sich und ihre Kinder Essen auf den Tisch zu bekommen. Relativ gesehen profitieren also die Armen mehr oder am meisten von der Lebensmittelsubventionierung. Denn die Alternative zum Kauf von billigem Brot, Reis etc. ist, an Unterernährung und Hunger zu leiden.

Nahrungsmittelsubventionen wurden als teure und unzureichende Maßnahme zur Armutsbekämpfung kritisiert. Stimmt ihr dieser Kritik zu?

Kressen Thyen: Nun, auch in diesem Fall ist es eine Frage des richtigen und fairen Framings. Nahrungsmittelsubventionen sind kein gutes Instrument, wenn man wirklich darauf abzielt, die relative Armut zu reduzieren und die Ressourcen umzuverteilen. Aber sollen sie das denn überhaupt tun? Vielmehr sind sie Werkzeuge, um armen Menschen zu helfen, genug Essen auf dem Tisch zu haben. Man kann es also eher so formulieren, dass sie nicht die relative Armut reduzieren, sondern dass sie dazu da sind, den Hunger zu bekämpfen und zu überwinden. Und was Letzteres betrifft, so haben die nordafrikanischen Länder seit dem Zweiten Weltkrieg enorme Verbesserungen in Bezug auf Hunger und Unterernährung erlebt.

Roy Karadag: Ja, ich meine, sicher kann man die Art und Weise kritisieren, wie das materielle Ziel der Beseitigung des Hungers in spezifische öffentliche Verfahren der Preisfestsetzung, der Lenkung der Landwirtschaft und der Bereitstellung von Infrastrukturen von Geschäften und Bäckereien umgesetzt wird, um die Armen zu erreichen. Aber das übergeordnete Ziel ist es, erschwingliche Lebensmittel zu bekommen, und ich sehe kein Problem mit diesem Ziel, insbesondere in Ländern, die viel ärmer sind als zum Beispiel hier in Mitteleuropa.

Kressen Thyen: Man wird Vergleiche anstellen können zwischen armen Ländern in den 1950er-Jahren und ihren Entwicklungsverläufen bis in die 1980er-Jahre und heute. Und dann findet man leicht erfolgreiche Wege aus der Armut, wo Staaten nicht auf ähnliche Formen der Nahrungsmittelsubventionierung angewiesen waren wie in Nordafrika. Und wo Staaten konkurrierende Formen der sozialen Sicherung und Armutsbekämpfung haben. Aber das ist keine Rechtfertigung dafür, Subventionen in Kontexten anzugreifen, in denen die Armut allgegenwärtig geblieben ist.

Roy Karadag: Man muss nicht kategorisch Versuche ablehnen, ein besseres Targeting zu haben oder sich der finanziellen Grenzen der Nahrungsmittelsubventionierung bewusst zu sein. Das wird seit den 1970er-Jahren und dem Zusammenhang zwischen hohen Subventionsausgaben, Haushaltszwängen und Massenprotesten immer mehr akzeptiert. Länder, die letztlich darauf angewiesen sind, billige Nahrungsmittel bereitstellen zu müssen, geraten in ernsthafte Legitimationsdefizite, wenn sie die Preise nicht kontrollieren können - wie in dieser Region, in der die Länder seit den 60er- und 70er-Jahren von Nahrungsmittelimporten abhängig geworden sind. Das ist ein Problem, und es wäre natürlich besser, wenn es genügend andere Formen von sozialer Sicherheit und Wohlfahrt gäbe. Aber das heißt nicht, dass man die Lebensmittelsubventionierung und das öffentliche Versprechen, erschwingliche Lebensmittel zu liefern und die Armen zu ernähren, einfach abschaffen kann.

Es gibt Alternativen zu Nahrungsmittelsubventionen auf dem "Markt der sozialpolitischen Instrumente": Sehr beliebt sind dabei die Social Cash Transfers, die in vielen Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen breite Anwendung finden. Wären diese nicht gezielter, um die ärmeren Teile der Gesellschaft zu unterstützen als Nahrungsmittelsubventionen?

Roy Karadag: Ich würde argumentieren, dass dieser globale Drang zu Cash Transfers nichts anderes ist als ein finanzieller Ausgleich für all jene Kontexte, in denen keine anderen wohlfahrtspolitischen Maßnahmen zur Verfügung stehen oder wenn diese nicht gewollt sind und nicht in die vorherrschenden Entwicklungsszenarien passen. Ja, ich bin für mehr Geld in den Taschen der armen Menschen, aber der Grund, warum diese Idee in allen Entwicklungsorganisationen hegemonial wird, ist, dass sie dem liberalen Wohlfahrtsverständnis nicht in die Quere kommt. Aber was wäre der Unterschied zu bestehenden Sozialleistungen, wenn man das Geld für teurere Lebensmittel ausgeben müsste? Da habe ich meine Zweifel.

Kressen Thyen: Es ist fragwürdig anzunehmen, dass solche Geldtransfers tatsächlich umverteilender sein werden als die bestehenden Rahmenbedingungen. Wenn die Kritik an der Lebensmittelsubventionierung lautet: Sie sind nicht umverteilend genug und stabilisieren höchst ungleiche soziale Verhältnisse, dann sollte man auch Cash-Transfer-Ideen mit der gleichen Kritik konfrontieren und hinterfragen, ob sie wirklich umverteilend sind. Und das ist nur eine Dimension. Man denke auch an die Folgen von Targeting und den Drang zu immer mehr und besserem Targeting, um wirklich sicherzustellen, dass nur die Bedürftigen diese Zahlungen erhalten. Die Erfassung der ganz Armen unter den Bedingungen, dass erhebliche Teile der Bevölkerung von struktureller Armut betroffen sind, ist sehr heikel, benötigt eine Menge finanzieller und bürokratischer Ressourcen und muss legitimiert werden.

Roy Karadag: Das andere übergreifende Thema oder Argument konzentriert sich auf die Liberalisierung der Landwirtschafts- und Lebensmittelmärkte: Das ist es, was Akteure wie die Weltbank und Befürworter neoliberaler Ideen anstreben. Ihr Argument, ihr Versprechen und ihre Hoffnung ist, dass liberalisierte Märkte mehr und ergo billigere Lebensmittel in die Städte bringen werden, da die bestehenden Ineffizienzen und Klüngelnetzwerke aufgebrochen würden, der Wettbewerb herrschen würde und es genügend Anreize gäbe, Lebensmittel zum richtigen Preisniveau an die städtischen Armen zu bringen. Das ist das liberale Versprechen: Aber man sollte diese Behauptung ernsthaft in Frage stellen. Warum sollten Lebensmittel in Zukunft ohne öffentliche Subventionierung so billig sein? Wenn Länder von Nahrungsmittelimporten abhängig sind, frei schwankende Währungen haben und wenn landwirtschaftliche Produzenten mit Cash Crops für internationale Märkte mehr verdienen. Man braucht viel Vertrauen und Glauben in die Marktmechanismen, die dafür sorgen, dass es keine Preiseskalation mehr gibt, gegen die man dann kein Preispolster mehr hat.

Kressen Thyen: Man denke auch an den Legitimationsverlust, der damit einhergehen würde, und an das Potenzial für Massenproteste. Wie wir schreiben, gibt es eine konkrete Tragik der Lebensmittelsubventionierung: Wenn man zu viel anbietet, gerät man in Haushalts- und Finanznot, insbesondere dann, wenn man aufgrund seiner Position auf den globalen Lebensmittel- und Agrarmärkten den Preis der Lebensmittel nicht kontrollieren kann. Wenn man sie aber zu sehr reduziert, um diesem Haushaltsdruck entgegenzuwirken, läuft man Gefahr, Lebensmittelunruhen auszulösen. Subventionskritiker*innen wollen die Länder aus der Nahrungsmittelsubventionsfalle herausholen. Aber sie können nicht garantieren, dass in einer Welt ohne Subventionen die Preise stabil und niedrig bleiben würden.

Der internationale Druck, die Lebensmittelsubventionen abzuschaffen, war über viele Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, hoch, und die Kosten der Subventionen sind sehr hoch und volatil. Warum halten Tunesien und Ägypten trotzdem daran fest (- wenn auch in unterschiedlichem Umfang)?

Roy Karadag: Nun, wegen ihres enormen symbolischen Wertes in den nordafrikanischen Gesellschaften. Hunger und Unterernährung haben in Zeiten von Wirtschaftskrisen und Kriegen in den vergangenen Jahrhunderten verheerende Auswirkungen gehabt. Und die kollektiven Erfahrungen mit Hunger in der Vergangenheit bestimmen nach wie vor, was die Menschen von ihren Regierungen erwarten, wobei bezahlbare Lebensmittel ganz oben auf der Agenda stehen.

Kressen Thyen: Man darf nicht vergessen, dass dies auch das einzige sozialpolitische Instrument ist, mit dem der Staat tatsächlich die gesamte Bevölkerung erreicht. Das gilt nicht für andere Politikfelder, in denen die Reichweite des Staates viel begrenzter ist, zum Beispiel in der Arbeitspolitik und der sozialen Sicherung. Informelle Arbeitsverhältnisse sind in Ägypten und Tunesien einfach zu weit verbreitet, und ihre Formalisierung mag ein schönes Ziel sein, ist aber unter den bestehenden Bedingungen kaum zu realisieren. Das Gleiche gilt für all die Versprechen von universeller Gesundheitsversorgung und öffentlicher Schulbildung, von Kinderfürsorge und Sozialhilfe. Aber jeder kommt auf den Markt, um Lebensmittel zu kaufen und zu konsumieren. Deshalb erreicht man mit diesen Maßnahmen alle. Und die Tatsache, dass "Brot" auch bei den Massenprotesten 2010 und 2011 einer der großen Slogans war, unterstreicht diesen symbolischen Wert und seinen Platz in der Gesellschaft. Die Menschen wollen den Staat nicht aus seiner Pflicht entlassen, bezahlbare Lebensmittel zu garantieren.

Roy Karadag: Man sollte sich vor Augen halten, dass die Ungleichheit im vergangenen Jahrhundert zugenommen hat, dass es einen enormen Druck auf die Mittelschichten gibt, die darum kämpfen, ihre soziale Position zu halten. Die Mittelschicht spürt die Gefahr der Verarmung sehr stark und beteiligt sich an den Mobilisierungen für den Erhalt der Subventionen. Und, wie gesagt, Lebensmittel sind ein symbolisch viel relevanteres Feld als z.B. der Bereich Verkehr und Energie, wo die Staaten viel mehr Subventionen kürzen. Auch dort gab es Proteste gegen hohe Lebenshaltungskosten, aber nicht mit der gleichen Inbrunst, wie es normalerweise im Zusammenhang mit Brotpreiserhöhungen geschieht.

Kressen Thyen: Also, das war jetzt alles auf die Erwartungshaltung in der Bevölkerung und auf Fragen der Legitimitätsvorstellungen und der Mobilisierungsfähigkeit beschränkt. Die andere Dimension ist dann, wie sich das in der tatsächlichen Regierungspolitik niederschlägt, um mit dieser Art von Druck und verallgemeinerten Erwartungen zu arbeiten. Und hier betreten wir das Feld der internationalisierten Reformen, der Modi, durch die Druck von oben und unten durch die herrschenden Eliten vermittelt wird. Und, kurz gesagt, geschah dies meist im Modus der Vermittlung ("brokerage"), d.h. die herrschenden Eliten haben sich durch diesen Druck durchgewurschtelt und versucht, genügend Druckmittel gegenüber beiden Seiten zu behalten.

Roy Karadag: Und dann, mit den Regimewechseln und der neuen internationalisierten Politik nach den ersten paar Übergangsjahren, gehen die Wege tatsächlich auseinander, und es gibt viel mehr Bewegung in Ägypten und keine mehr in Tunesien, wie wir in dem Artikel darlegen. Aber mehr Bewegung bedeutete nicht, dass sie abgeschafft wurden, sondern nur, dass sie mehr liberalisiert wurden als andere, um all das Lob von Expertengemeinschaften zu bekommen.

In eurem Aufsatz schreibt ihr einen sehr starken Satz: "The internationally recommended adjustment of North African welfare systems to more market-friendly economic policies is empirically tied to violence and repression." Könntet ihr das bitte erklären? Und bedeutet das, dass die IOs und andere internationale Akteure lieber aufhören sollten, auf sozialstaatliche Reformen in Nordafrika zu drängen?

Kressen Thyen: Der Zusammenhang zwischen Gewalt, staatlichem Zwang und Autokratie auf der einen Seite und wirtschaftlicher Liberalisierung auf der anderen Seite ist durchaus gegeben. Nicht nur für diese Region. Und hier sind es eben die Experten, die zur Umsetzung einer Politik aufrufen, die nicht populär ist und einen demokratischen Prozess nicht überleben würde. Das ist auch nicht spezifisch für diese Länder: Sozialstaatlicher Rückbau ist immer eine heikle Angelegenheit und führt in der Regel zu Protestmobilisierung und Anfechtung. Das ist ein Grund, warum sich die tunesische Politik in den Jahren nach 2013 nicht dazu bewegen ließ, weitere Subventionskürzungen vorzunehmen oder gar über gezieltere Maßnahmen nachzudenken. Und es ist ein großer Faktor bei der Überwindung der großen Kluft zwischen den Forderungen der IO und den Forderungen des Volkes. Das wurde nur im Zusammenhang mit der Zerschlagung von Aktivistenräumen und oppositionellen Netzwerken und der Zerschlagung des mächtigsten oppositionellen politischen Blocks jener Zeit, der Muslimbruderschaft, überwunden.

Roy Karadag: Ja, die neuen Militärmachthaber unter der Sisi-Regierung haben es nicht aufgrund klügerer politischer Aussichten oder besserer politischer Kommunikation zwischen den verschiedenen Interessengruppen geschafft, sich als transformative Reformer zu inszenieren, wie im Fall der Reform der Lebensmittelsubventionen 2014. Was sie von früheren Regierungen unterscheidet, ist stattdessen ihr transformativer Einsatz von Repression und Zwang.

Nun, wenn man politisch oder akademisch auf einer Linie mit liberalen Reformforderungen des IWF, der Weltbank, der EU, von Akteuren wie Deutschland und den USA ist, dann kann man sicherlich weiterhin auf politische Veränderungen drängen. Aber man sollte sich sehr bewusst sein, was für ein Signal es ist, wenn man Regierungen wie der ägyptischen positiv bescheinigt, dass sie in der Lage sind, solche Veränderungen einzuleiten. Denn eine solche Zertifizierung und Legitimierung legitimiert auch die enorme Gewalt, die mit dieser Politik verbunden ist. Und hier würde ich sehr dazu raten, das nicht zu tun. Und in seinem wissenschaftlichen Urteil angemessen zu sein, warum die Dinge so geschehen sind, wie sie geschehen sind.

Kressen Thyen: Ja, wir haben das nicht geschrieben, um zu sagen, dass es keine internationale Zusammenarbeit geben sollte oder dass es keine politischen Empfehlungen von solchen Organisationen geben darf oder dass sogar Subventionssysteme so beibehalten werden sollten, wie sie sind. Wir wollten vor allem die Scheinheiligkeit aufzeigen, für die solche global ausgerichteten Organisationen und große Akteure wie Deutschland, um nur einen großen Akteur zu nennen, stehen. Deutschland will weiterhin eng mit dieser ägyptischen Regierung zusammenarbeiten, um eine bessere wirtschaftliche Zukunft für Ägypten und für die deutsch-ägyptische Entwicklungszusammenarbeit zu schaffen, ungeachtet der Menschenrechtsbilanz der ägyptischen Machthaber. Man mag sagen: Okay, das ist Realpolitik und muss man so hinnehmen. Schön und gut, aber das trifft ja für die Fachwelt nicht zu. Warum müssen denn die Expert*innen Ägypten als Erfolg und sogar als Modellfall bejubeln? Das darf einfach nicht sein.

Roy Karadag: Ja, es gibt eine Menge Heuchelei, das ist nichts Neues in der internationalen und in der Nahost- und Nordafrika-Politik. Das werden wir nicht ändern. Aber wir wollten zumindest deutlich machen, wo die Widersprüche internationalisierter Sozialpolitik liegen, und dass man die ganze Gewalt, die mit den realen politischen Veränderungen verbunden ist, nicht beschönigen sollte.

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Lesen Sie das vollständige Papier online:

Thyen, Kressen; Karadag, Roy, 2021: Between Affordable Welfare and Affordable Food: Internationalized Food Subsidy Reforms in Egypt and Tunisia, in: Social Policy & Administration, online first, https://doi.org/10.1111/spol.12710


Kontakt:
Dr. Roy Karadag
SFB 1342: Globale Entwicklungsdynamiken von Sozialpolitik, Institut für Interkulturelle und Internationale Studien
Mary-Somerville-Straße 7
28359 Bremen
Tel.: +49 421 218-67468
E-Mail: karadag@uni-bremen.de

Dr. Kressen Thyen
SFB 1342: Globale Entwicklungsdynamiken von Sozialpolitik
Mary-Somerville-Straße 7
28359 Bremen
Tel.: +49 421 218-58515
E-Mail: thyen@uni-bremen.de

Anna Wolkenhauer
Anna Wolkenhauer
Anna Wolkenhauer vom InIIS vertritt Alex Veit bis Ende März 2021 in Teilprojekt B09. Wir stellen sie in einem Interview kurz vor.

Du hattest Mitte September deine Verteidigung. Wie ist es gelaufen, kann man dir gratulieren?

Ja, ihr könnt mir gerne gratulieren! Den Titel (PhD) trage ich ja erst mit der Publikation meiner Monografie, aber die Verteidigung ist schonmal sehr gut gelaufen.

Es ist wahrscheinlich unmöglich, aber dennoch: Kannst du in wenigen Sätzen erklären, worum es in deiner Dissertation ging?

Ich bin in meiner Dissertation der Frage nachgegangen, wie Sozialpolitik und Staatswerdung (state formation) im Zeitalter des "Neoliberalismus 2.0" zusammenhängen. Während meiner, sich mittlerweile über viele Jahre erstreckenden, Arbeit und Forschung in Sambia wurde mit der Zeit deutlich, dass hier spannende Dynamiken am Werk sein könnten. So habe ich dort dann Angestellte des Staates, Empfänger*innen von Sozialpolitik, sowie auch Menschen aus der Zivilgesellschaft und aus internationalen Organisationen interviewt, um die vielschichtigen Auswirkungen der neuen sozialpolitischen Programme auf den Staat besser zu verstehen. In einem qualitativen Analyseprozess habe ich verschiedene Mechanismen herausgearbeitet, durch die Staatlichkeit sich vom Zentrum in die Peripherien des Landes ausbreitet, was sich bspw. in der diskursiven Einbeziehung und der Bürokratisierung und Standardisierung der Bevölkerung äußert sowie in politischen Verbindungen und Möglichkeiten der Einflussnahme. Es lässt sich hierbei jedoch eine gewisse Ambivalenz konstatieren: In diese Ausweitung von Staatlichkeit sind die ideologischen sowie praktischen und als natürlich wahrgenommenen Grenzen des Staates bereits eingebaut.

In den kommenden Monaten vertrittst du Alex Veit (Vertretungsprofessor in Marburg)  im SFB-Teilprojekt B09 "Transnationale Wohlfahrt. Aufstieg, Zerfall und Renaissance der Sozialpolitik in Afrika". Welche Aufgaben wirst du im Projekt übernehmen?

Ich werde meine Ergebnisse aus Sambia für vergleichende Diskussionen mit den anderen Länderstudien des Projekts einbringen und bin außerdem dabei, an Publikationen mitzuwirken.

Welche Lehrveranstaltungen übernimmst du im Wintersemester?

Ich biete ein BA-Seminar zu "Politik auf dem Land" sowie eine Übung zur Vorlesung "Internationale Beziehungen" an.

Welche fachlich-beruflichen Pläne hast du für die nächsten Jahre?

Ich fange gerade an, mich noch eingehender mit Politik im ländlichen Raum und ihrer Wechselwirkung mit staatlicher Sozialpolitik zu befassen. Mich interessiert die Frage, wie sich Veränderungen, die mit Globalisierung der Landwirtschaft und der neoliberalen Wende in der Sozialpolitik zusammenhängen, auf die Art und Weise der politischen Beteiligung und des politischen Selbstverständnisses auf dem Land auswirken.


Kontakt:
Dr. Anna Wolkenhauer
SFB 1342: Globale Entwicklungsdynamiken von Sozialpolitik, Institut für Interkulturelle und Internationale Studien
Mary-Somerville-Straße 7
28359 Bremen
Tel.: +49 421 218-57099
E-Mail: anna.wolkenhauer@uni-bremen.de

Dr. Alex Veit (Foto: Caroline Wimmer)
Dr. Alex Veit (Foto: Caroline Wimmer)
Der Co-Leiter von Teilprojekt B09 wechselt für die kommenden sechs Monate ans Zentrum für Konfliktforschung. Seine Arbeit im SFB 1342 bleibt davon unberührt.

Lieber Alex, du gehst als Vertretungsprofessor an die Universität Marburg - herzlichen Glückwunsch! Wen vertrittst du dort?

Alex Veit: Danke! Ich vertrete den Kollegen Thorsten Bonacker am Zentrum für Konfliktforschung.

Für wie lange?

Von Oktober bis März kommenden Jahres, also für das Wintersemester.

Was sind deine Pläne für die Zeit am ZfK?

In der Lehre unterrichte ich die Einführung in die Friedens- und Konfliktforschung sowie Seminare zu humanitären militärischen Interventionen und zur politischen Ökonomie und sozialen Bewegungen im Globalen Süden.

In der Forschung befasse ich mich mit der Internationalisierung von Staatlichkeit in Afrika durch die Einbindung internationaler Akteure in staatliche Kernaufgaben. Leitfragen sind dabei: Wie kann die Rolle internationaler Organisationen, bilateraler Geldgeber und von Entwicklungsorganisationen in der Organisation von Sicherheit, Wohlfahrt und Entwicklung theoretisch verstanden werden? Welche Auswirkungen hat die Machtposition internationaler Akteure auf das Verhältnis von Staaten zu ihren Bürgern? Und welche Konflikte entstehen durch die Internationalisierung von Staatlichkeit, welche Muster von Konfliktaustragung sind zu beobachten?

Was bedeutet all das für deine Arbeit bei uns im SFB?

Die Forschung im Teilprojekt B09 geht natürlich weiter, in der gegenwärtigen Phase vor allem durch die Vorbereitung von Publikationen.


Kontakt:
Dr. Alex Veit
Clement Chipenda, PhD
Clement Chipenda, PhD
Ein Gespräch mit unserem Fellow Clement Chipenda über die sozialen Auswirkungen der Landreform in Simbabwe, die Folgen des pandemiebedingten Lockdowns und seine aktuelle Forschung mit unserem Kollegen Alex Veit.

Vor etwa 20 Jahren hat Simbabwe mit dem so genannten Fast-Track-Landreformprogramm begonnen, in dessen Rahmen etwa 7 Millionen Hektar Land neu verteilt wurden. Zunächst sollten wir uns in Erinnerung rufen, was die Motive für dieses Programm waren.

Offiziell war das Motiv, das Erbe des Kolonialismus umzukehren. Als der Kolonialismus 1980 endete, betrug die Zahl der weißen kommerziellen Farmer etwa 6000. Sie besaßen 15 Millionen Hektar erstklassiges Agrarland. Gleichzeitig lebten fast eine Million schwarze Haushalte in Gemeinschaftsgebieten, d.h. in Gebieten oder ehemaligen Reservaten der Ureinwohner, die während des Kolonialismus eingerichtet worden waren. Das Motiv für die Reform war offiziell der Versuch, das Land gleichmäßig umzuverteilen. Es hatte in den Jahrzehnten nach der Unabhängigkeit Versuche gegeben, dies zu tun, aber die Fläche, die neu verteilt wurde, war sehr begrenzt. Um das Jahr 2000 herum, als das Fast-Track-Landreformprogramm begann, waren erst 75.000 Familien umgesiedelt worden. Im Jahr 1982 war das Ziel die Umsiedlung von 182.000 Familien gewesen.

Wie du erwähnst, waren die früheren Versuche, das Land umzuverteilen, mehr oder weniger gescheitert: Warum hat sich die Regierung im Jahr 2000 zu diesem definitiven Bruch mit dem postkolonialen System entschlossen und die Landreform konsequent umgesetzt?

Die Regierungspartei sah sich zu diesem Zeitpunkt einer zunehmenden politischen Opposition gegenüber. Und es gab auch Unzufriedenheit, weil Veteranen, die im Krieg gekämpft hatten, einfache Bürger und Bauern ebenfalls Land verlangten, es blieb das unvollendete Geschäft des Befreiungskrieges. Der Prozess der Landreform begann zunächst mit der Besetzung landwirtschaftlicher Betriebe. Die Regierung setzte zunächst das Gesetz durch und versuchte, die Menschen, die die Farmen besetzten, zu vertreiben. Doch am Ende wurde der Druck zu groß, so dass die Regierung ebenfalls ins Boot kam und begann, die Landreform voranzutreiben. Das waren die Motive, aber sie war politisch motiviert, so dass verschiedene Leute die Reform unterschiedlich interpretieren.

Wie beurteilst du die Ergebnisse 20 Jahre später?

Gewöhnlich wird die Landreform im Hinblick auf ihre Auswirkungen auf die Wirtschaft und die landwirtschaftliche Produktion analysiert, die Analyse ist immer produktionsorientiert. Der Druck, dies zu tun, wird noch verstärkt, weil die Landwirtschaft der Schlüssel zur Wirtschaft des Landes ist. Aber es gibt viele Engpässe und Schwierigkeiten. Was die Produktion betrifft, stellt man fest, dass einige Menschen nicht so produktiv sind, wie man es erwartet hatte, aber dies ist auf verschiedene Faktoren zurückzuführen, z.B. mangelndes Fachwissen, fehlender Zugang zu Finanzmitteln und Märkten. Dies wird durch andere Faktoren wie Dürren, Auswirkungen des Klimawandels und veraltete Infrastruktur ergänzt, die die Menschen zu der Schlussfolgerung veranlassen, dass die Ergebnisse der Reform schlecht sind. Es gibt jedoch auch andere Ergebnisse, die 20 Jahre später als positiv angesehen werden können: Die Menschen haben jetzt Zugang zu einer produktiven Ressource - dem Land und dem damit verbundenen Zugang zu natürlichen Ressourcen -, die sie vorher nie hatten, sie haben jetzt eine Unterkunft und andere zahlreiche soziale Reproduktions- und Schutzeffekte, die das Leben der Menschen auf unterschiedliche Weise verändert haben. Leider hat Simbabwe 20 Jahre nach den Reformen ein gravierendes Nahrungsmitteldefizit, derzeit benötigen 60% der Bevölkerung Unterstützung in Form von Nahrungsmitteln. Das ist die Folge einer Kombination verschiedener Faktoren, aber in einer solchen Situation werden die Reformen dafür verantwortlich gemacht. Deshalb sehen Sie verschiedene Regierungsinitiativen, um einige dieser Produktions- und Nahrungsmitteldefizite zu decken.

In welcher Hinsicht ist die Politik der neuen Regierung anders?

Die neue Regierung hat einen anderen Ansatz zur Handhabung der Landreform. Die frühere Regierung sah den politischen Kontext - für sie musste das Land als letzte Phase des Entkolonialisierungsprozesses an die indigene Bevölkerung zurückgegeben werden. Die neue Regierung identifizierte die Landwirtschaft als Hauptmotor für die wirtschaftliche Entwicklung Simbabwes als Ganzes. Ihr Ansatz folgt mehr oder weniger neoliberalen Grundsätzen. Sie will die Landwirtschaft rentabel machen; das Land soll produktiv sein. Im vergangenen Jahr haben wir Medienberichte über die Drohungen hoher Regierungsbeamter gelesen, dass umgesiedelten Bauern das Land weggenommen werden könnte, wenn sie nicht produktiv sind. Sie müssen verstehen, dass das Land Eigentum der Regierung ist und nicht des Einzelnen, der nur Nießbrauchsrechte daran hat, so dass der Eigentümer, also die Regierung, diese Rechte jederzeit zurücknehmen kann. Die Regierung hat die Bauern auch ermutigt, Investoren zu finden, die daran interessiert sind, sie finanziell zu unterstützen, so dass es einen großen Unterschied zwischen der alten und der neuen Regierung gibt, wenn es um die Politik geht.

Siehst du bereits internationale Investoren nach Simbabwe kommen?

Ich glaube nicht, dass das Umfeld im Moment für Investoren günstig ist, es gibt zu viele Unsicherheiten, wirtschaftliche Instabilität, schlechte Publicity, politische Polarisierung und manchmal politische Inkonsistenz. Das sind die Bedingungen, die das Land korrigieren muss, wenn Investoren kommen sollen. Investoren suchen nach einem stabilen Umfeld, und ich glaube nicht, dass unser Land das im Moment bietet. Da ist die Frage der Sicherheit der Besitzverhältnisse.  Berichte über Zwangsräumungen, Invasionen auf Bauernhöfen, Missachtung von Gerichtsbeschlüssen und Rechtsstaatlichkeit führen dazu, dass Investoren sich scheuen, in das Land zu investieren. Menschen und Unternehmen investieren nur, wenn ihre Investition garantiert ist, eine instabile Wirtschaft bietet solche Garantien nicht. 

Du hast dich während deiner Doktorarbeit intensiv mit der Landreform beschäftigt. Was war dein Schwerpunkt?

Ich betrachtete die Landreform als eine Sozialpolitik. In meiner Dissertation ging es um die Frage, wie sich die Landreform fünfzehn Jahre später auf die Lebensgrundlagen der Menschen ausgewirkt hat. Ich versuchte, von den alten Debatten wegzukommen, die sich nur auf die Produktionsfragen, die Menschenrechtsverletzungen und die Frage konzentrierten, wie die Landreformprozesse hätten ablaufen sollen. Mein Schwerpunkt war der Versuch, herauszufinden, ob es möglich ist, die Landreform als ein sozialpolitisches Instrument zu betrachten, das mit anderen sozialpolitischen Maßnahmen wie Renten, Sozialbeihilfen, Bildung und anderen Interventionen vergleichbar ist. In diesem Zusammenhang habe ich gesagt, dass die Zuteilung von Land, das eine produktive Ressource oder Währung darstellt, beispielsweise mit sozialen Zuwendungen verglichen werden kann. Meine Grundlogik war also, dass Land als umverteilte Ressource zu Ergebnissen führen sollte, die das Wohlergehen und die Lebensgrundlagen der Menschen verbessern. Wenn man sich eine Sozialpolitik ansieht, dann sollte sie zu sozialem Schutz führen, zur Umverteilung von Ressourcen und zum sozialen Zusammenhalt beitragen, und ich war der Meinung, dass Land, wenn es neu verteilt wird, diese Auswirkungen haben kann. Mein Schwerpunkt lag daher auf einzelnen Haushalten, da ich der Meinung war, dass die Ergebnisse auf dieser Ebene deutlicher zu erkennen sind. Deshalb habe ich den Haushalt und nicht den gesamten landwirtschaftlichen Sektor betrachtet. Dann ging ich der Frage nach, inwieweit die Bodenreform, wenn sie eine Sozialpolitik ist, die Lebensgrundlagen der Menschen verbessert hat. Was sind die Herausforderungen? Was sind die kleinen Dinge, die sie zum Leben der Menschen beigetragen hat? Dies geschah im breiteren Kontext der Untersuchung der Frage, wie sie den Wohlstand und das Wohlergehen der bäuerlichen Haushalte verbessert hat.

Es ist wahrscheinlich schwierig, die Ergebnisse in dieser Hinsicht zu verallgemeinern. Aber wenn man versucht, sie zusammenzufassen: Was sind die Auswirkungen der Landreform auf der Haushaltsebene?

Ich kann sie nicht für das ganze Land verallgemeinern, sondern nur für das Gebiet, das ich untersucht habe, nämlich einen Distrikt namens Goromonzi in der Ostprovinz Mashonaland in Simbabwe. Sogar das Gebiet, das ich untersucht habe, hat seine eigene Dynamik - zum Beispiel hat es fruchtbare Böden, günstige klimatische Bedingungen und es ist eine der besten Regionen des Landes. Wenn man es also mit anderen Gebieten vergleicht, dann unterscheiden sich sogar die Ergebnisse der Landreform in der Nähe. Denn diese Faktoren tragen dazu bei, wie sich die Landform auf die Haushalte ausgewirkt hat. Ich habe einen Vergleich mit Menschen angestellt, die in den ehemaligen Schutzgebieten leben. Was die Produktion betrifft, so hatten die Begünstigten etwas höhere Renditen, weil ihre Pendants in armen Gebieten mit schlechten Böden und geringeren Niederschlägen leben. Sie haben auch besseren Zugang zu Produktionsmitteln, Beratungsdiensten und Bewässerungsinfrastruktur, so dass die Erträge höher sind.

Was die Vermarktung anbelangt, so waren die Begünstigten der Landreform im Vorteil, weil sie ihre eigenen, einzigartigen landwirtschaftlichen Vermarktungsnetze entwickelt haben und Unterstützung von der Regierung und privaten Unternehmen erhalten, von denen einige Vertragslandwirtschaftsverträge abgeschlossen haben, so dass dies zu besseren Einkommen beigetragen hat. Und in Bezug auf den sozialen Schutz war das Land tatsächlich zu einem Vermögenswert geworden, den sie besser nutzen konnten, um sich vor Risiken und Schocks zu schützen, im Vergleich zu denjenigen, die kleinere Landstücke oder gar kein Land haben.

Die Reform hatte auch eine soziale und kulturelle Dimension. Indem Menschen Land haben, haben sie tatsächlich einen Ort, an dem sie bleiben können, ich bezeichne ihn gerne als Heimat auf dem Land. Familienmitglieder, auch wenn sie in Städten leben, haben eine Anlaufstelle, an die sie sich im Falle von Krisen wie Arbeitslosigkeit und Armut wenden können. Eine weitere Dynamik, die ich beobachtet habe: Die Menschen praktizieren ihre traditionellen Rituale auf ihrem Land; sie haben Orte für die Beisetzung ihrer Angehörigen. Dies sind Aspekte, die im allgemeinen Narrativ der Landreform ignoriert werden, aber für die afrikanischen Menschen sind Traditionen, Kultur und die Verbindung zwischen den Menschen und dem Land etwas sehr Wichtiges. Der Ansatz, den ich in meiner Dissertation verfolgte, war unkonventionell, so dass es eine Menge Fragen gab, aber ich denke, die Argumentation war nachvollziehbar und wurde mit dem Doktortitel ausgezeichnet. Seither wird das Konzept der Landreform als sozialpolitisches Instrument mehr und mehr akzeptiert, ich habe sogar einige Artikel darüber veröffentlicht.

Schauen wir uns die jüngste Situation an - wie wirkt sich Covid-19 auf die ländliche Bevölkerung aus, insbesondere im Hinblick auf die Ernährungssicherheit?

Aufgrund von Covid-19, einer mageren Agrarperiode 2019-2020 und der Dürre in Simbabwe wird geschätzt, dass in diesem Jahr etwa 8 Millionen Menschen Nahrungsmittelhilfe benötigen werden. Die Pandemie hat die landwirtschaftliche Produktion, die Planung und die Märkte gestört. Landwirte und Landbewohner können ihren normalen Geschäften und Routinen nicht nachgehen, da Simbabwe seit April im Lockdown ist, zunächst für zwei Wochen, seither aber auf unbestimmte Zeit. Die Bewegungsfreiheit ist eingeschränkt, die Agrarmärkte waren ursprünglich geschlossen, aber zumindest teilweise geöffnet. In vielerlei Hinsicht ist das tägliche Leben gestört. Er wird noch verschlimmert, weil viele Menschen im informellen Sektor beschäftigt sind - wenn also Städte dichtgemacht werden, wirkt sich das stark auf die Lebensgrundlagen der Menschen aus, es ist schwierig, Einkommen zu erzielen, und es unterbricht Wertschöpfungsketten auf allen Ebenen. In Bezug auf die Ernährungssicherheit gibt es Probleme, da die Menschen keine Nahrungsmittel produzieren oder kaufen können. Manche Produktionsmittel sind nicht verfügbar, manche Importprodukte sind sehr teuer geworden, produktive Aktivitäten sind, wenn sie nicht eingeschränkt werden, begrenzt, so dass sich dies in vielerlei Hinsicht auf die Ernährungssysteme auswirkt. Für Simbabwe ist dies vor dem Hintergrund einer hohen Arbeitslosigkeit zu sehen, wobei viele Familien auf Überweisungen aus anderen Ländern, insbesondere aus Südafrika, angewiesen sind. Als das Land mit seiner eigenen Covid-19-Pandemie konfrontiert war und heruntergefahren wurde, wirkte sich dies auf diejenigen aus, die dort arbeiteten und Überweisungen schickten, und erschwerte das Senden und Empfangen von Geld, so dass Covid-19 eine Herausforderung war.

Wie gehen die Menschen in ihrem Alltag mit dieser Situation um?

Die Landwirtschaft wurde zu einer lebenswichtigen Dienstleistung erklärt, damit die landwirtschaftliche Produktion nicht gestört wird, aber sie operiert nicht im luftleeren Raum, so dass das, was in anderen Wirtschaftssektoren geschehen ist, auch die Landwirtschaft und die ländlichen Gemeinden betrifft. Insgesamt denke ich, dass die Pandemie viele Menschen negativ beeinflusst hat, vor allem diejenigen, die im informellen Sektor tätig sind, und Menschen, die in städtischen Gebieten leben. Sie müssen ihre Wasserrechnungen bezahlen, sie müssen Miete zahlen, sie müssen Lebensmittel kaufen, einige haben Großfamilien zu versorgen - wie kommen sie zurecht, wenn sie nicht in der Lage sind zu arbeiten? Das wird zu einer Herausforderung, und selbst für diejenigen, die arbeiten, sind die Arbeitszeiten eingeschränkt, die Kunden sind gezwungen, zu Hause zu bleiben, und einige handeln mit importierten Waren, die nicht geliefert werden, da die Grenzen geschlossen sind, und selbst wenn sie kommen, sind die Frachtkosten exorbitant. In dieser Situation versuchen die Menschen einfach irgendwie, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Es ist es interessant zu beobachten, wie sich die Menschen langsam an die "neue Normalität" gewöhnen. Diese schwierige Situation wird noch verschlimmert, weil das von der Regierung eingeführte Unterstützungssystem meiner Meinung nach undurchsichtig und nicht ausreichend ist. Ein Beispiel ist die Sozialhilfe während Covid-19. Der größte Teil der von der Regierung gewährten Unterstützung für den Sozialschutz wird über das Sozialhilfeministerium abgewickelt. Es wurde berichtet, dass es seine Datenbank nutzen wird, um potenzielle Empfänger zu identifizieren. Das lässt viele Menschen zurück, da einige, die jetzt aufgrund der Auswirkungen von Covid-19 bedürftig sind, möglicherweise nicht einmal in dieser Datenbank enthalten sind, so dass viele Menschen durchs Raster fallen. Die von der Regierung für die Unterstützung bedürftiger Haushalte zugesagte Geldsumme ist zudem sehr gering und wird durch das hyperinflationäre Umfeld im Land und Währungsschwankungen nutzlos gemacht. 

Simbabwe befindet sich seit vielen Monaten im Lockdown. Akzeptiert die Bevölkerung noch  immer die Restriktionen oder gibt es Unmut?

Es gibt in der Tat gemischte Gefühle. Die Menschen sind jetzt müde, sie wollen mit ihrem Leben weitermachen, sie wollen sich frei bewegen und arbeiten und ihre Familien versorgen. Die Menschen wollen, dass die Wirtschaft geöffnet wird, vor allem wenn sie sehen, dass Länder wie Südafrika die Beschränkungen systematisch aufheben, haben sie das Gefühl, dass wir die Beschränkungen lockern müssen, zumal die Zahl der bestätigten positiven Fälle gering ist. Aber die Menschen können sich nicht offen äußern oder demonstrieren, selbst wenn sie das starke Gefühl haben, dass das ganze Thema nicht richtig gehandhabt wird. Interessanterweise gibt es, obwohl die Menschen das Gefühl haben, dass die strengen Beschränkungen gelockert werden sollten, die Angst, dass Covid-19 das Land wie anderswo hart treffen könnte, so dass diese Vorsicht noch immer vorhanden ist.

Lass uns noch kurz über dein Forschungsprojekt mit Alex Veit vom SFB-Teilprojekt B09 sprechen, das sich auf die Ernährungssicherungspolitik in Südafrika während der letzten 100 Jahre konzentriert. Was genau untersucht ihr dabei?

In den letzten hundert Jahren wurden verschiedene Programme zur Bereitstellung von nahrungsmittelbedingter Hilfe eingeführt, die auf die verschiedenen Bevölkerungsgruppen des Landes ausgerichtet waren. Während dieser Zeit hat Südafrika einen politischen und ideologischen Wandel durchgemacht. Wir fragen: Wie hat sich die Ernährungssicherungspolitik des Landes im letzten Jahrhundert entwickelt? Dann untersuchen wir die verschiedenen Ernährungssicherungspolitiken, die von den aufeinander folgenden Regierungen eingeführt wurden, um den armutsbedingten Hunger und die Unterernährung zu bekämpfen. Wichtig ist es, die Rolle der verschiedenen Akteure zu verstehen und anhand des südafrikanischen Falles zu begründen, dass Ernährungssicherheit, die eine übersehene Form der Bereitstellung öffentlicher Wohlfahrt ist, wichtige Erkenntnisse über die öffentliche Wohlfahrt als zentralen Aspekt der Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft liefern kann.

Unsere Forschung umfasst interessante Fallbeispiele wie das Schulspeisungsprogramm aus der Zeit vor und während der Apartheid, das verschiedenen demographischen Gruppen zugute kam, jedoch stark rassistisch geprägten und bisweilen schockierenden Narrativen unterworfen war. Die miteinander verflochtenen Interessen und Agenden von Politikern, Industrie- und Agrarkapitalisten, Philanthropen, religiösen Führern, afrikanischen Nationalisten, Gewerkschaften, Frauenorganisationen und anderen Interessengruppen sind Gegenstand unserer Forschung, die auch das Nahrungsmittelsubventionssystem berührt. Die Dynamik des Nahrungsmittelsubventionssystems, das eine wichtige Rolle bei der Aufrechterhaltung des sozioökonomischen und politischen Zusammenhalts der Apartheidregime spielte, während es die afrikanische Mehrheit ausschloss, sind einige der Schlüsselfragen, die wir in unserer Forschung ansprechen. Es ist eine interessante historische Forschung, die Beachtung finden sollte.

Ich kann mir vorstellen, je länger man in der Zeit zurückgeht, desto schwieriger wird es zu analysieren, wer den politischen Prozess beeinflusst hat ...

Das war in der Tat eine unserer Herausforderungen. Es gibt nicht viel Literatur zu den spezifischen Themen, nach denen wir gesucht haben, so dass wir stark auf Material aus den Archiven und Medienberichten angewiesen sind. Zeitungen waren besonders nützlich, wenn es darum ging, aktuelle Informationen darüber zu geben, was zu einem bestimmten Zeitpunkt geschah und was von Personen gesagt wurde, sogar in direkten Zitaten, zum Beispiel im Parlament. Wir haben festgestellt, dass dies sehr wertvolle Informationen sind, die wichtige Lücken in unserer Forschung gefüllt haben. Die Suche in Archiven, um zu versuchen, die damalige Situation zu verstehen, war sehr nützlich und informativ.  Ab den 1950er Jahren ist das Material nicht so schwer zu finden. Es ist die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, die ein wenig schwierig ist. Der andere Faktor ist, dass die Apartheidregierung irgendwann die Forschung in Bereichen, die Lebensmittel und Ernährung in afrikanischen Gemeinden betreffen, eingeschränkt hat - es gibt da eine merkliche Informationslücke. Dies erklärt, warum zu einigen Aspekten in einigen historischen Perioden nicht viel Literatur zur Verfügung steht. Das machte unsere Forschung schwierig und aufschlussreich zugleich, und durch die Verwendung von historischem Material konnten wir viele historische Dynamiken verstehen. Unsere Arbeit ist jetzt in einem fortgeschrittenen Stadium, aber wir sind noch dabei, einige Punkte zu verfeinern. Wir gehen ständig in die Archive, um einige Punkte zu klären und weiterzuverfolgen. Glücklicherweise sind die Archive digitalisiert, so dass sich die Reisebeschränkungen nicht allzu negativ auf diesen kritischen Aspekt unserer Forschung ausgewirkt haben.


Kontakt:
Clement Chipenda
Prof. Dr. Klaus Schlichte
Prof. Dr. Klaus Schlichte
Klaus Schlichte blickt in einem Podcast-Interview auf die Covid-19-Pandemie in den Ländern Afrikas und auf die Maßnahmen der Regierungen.

"Es gibt Unterschiede zwischen den Ländern, aber die repressive Politik ist die dominante", sagt Klaus Schlichte mit Blick auf die staatlichen Reaktionen auf die Ausbreitung des neuartigen Corona-Virus in Afrika. In vielen Ländern gebe es Ausgangssperren, die zumindest in den Städten polizeilich massiv durchgesetzt würden. Was aus epidemiologischer Sicht notwendig erscheinen mag, hat aber auch negative Folgen: "Durch die Unterbindung des Verkehrs gibt es offenbar schon Krisen in der Versorgung der städtischen Bevölkerung mit Nahrungsmitteln", sagt Schlichte. Komme es zu dauerhaften Preissteigerungen bei Lebensmitteln, seien Hungerunruhen eine große Gefahr. Denn schon vor der Pandemie konnten sich viele Menschen in afrikanischen Städten Nahrungsmittel nur schwer leisten.

Derzeit scheint der afrikanische Kontinent noch vergleichsweise wenig von der Pandemie betroffen zu sein. Dies liege an der vergleichsweise geringen internationalen Mobilität der Bevölkerung. "Ist das Virus aber erst einmal in den Städten angekommen, dürfte die Verbreitung schneller verlaufen als etwa in Europa", sagt Schlichte. "Denn die Menschen leben enger beieinander und haben weniger Rückzugsräume in Form eigener Wohnungen oder Häuser."

Wie sich die Pandemie entwickeln werde, sei durch die schlechte Datenlage schwer abzuschätzen. Ein Problem bei der Prognose sei, dass es kaum Daten zur Verbreitung von Vorerkrankungen wie Asthma und anderen Atemwegserkrankungen gebe. "Die afrikanischen Gesellschaften sind viel jünger als etwa die europäischen. Es gibt vergleichsweise wenig alte Menschen, bei denen Covid-19 häufiger besonders schwere Verläufe nimmt." Dieser positive Effekt werde womöglich aber dadurch aufgewogen, dass es viele Menschen mit Mangel- und Unterernährung gebe.

Wirtschaftlich trifft die Covid-19-Pandemie die afrikanischen Gesellschaften hart. Der Tourismus, der in den Küstenregionen, aber auch im Landesinneren in Form von Safaris große Bedeutung habe, breche massiv ein. "Wichtiger aber ist der Rückgang der so genannten Remittances [also der Geldüberweisungen von Familienangehörigen, die z.B. in Europa arbeiten]. Dadurch bricht die wichtigste Devisenquelle afrikanischer Ökonomien ein." In Summe seien die Rücküberweisungen höher als die gesamte Entwicklungshilfe, die afrikanische Staaten erhielten.

Mittelfristig könnte die Corona-Krise aber auch positive Folgen haben: "Möglicherweise wird nun der Druck auf die afrikanischen Regierungen steigen", sagt Schlichte, "mehr Mittel für die öffentliche Gesundheitsversorgung auszugeben und weniger für Militär und Polizei."

Das Podcast-Interview mit Klaus Schlichte führte Thomas Walli vom Institut für Politikwissenschaft der Universität Innsbruck im Rahmen der Sonderreihe "Corona und die Politik".


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