Teilprojekt B04 (2018-2021)
Offene Wohlfahrtsstaaten? Die soziale Absicherung von Arbeitsmigration und ihre Rückwirkung auf nationale Politik
Grenzüberschreitende Arbeitsmigration bewirkt eine wichtige horizontale Verflechtung zwischen verschiedenen Ländern, die die nationale Ausrichtung sozialer Sicherungssysteme infrage stellt, aber auch Anreize dafür schafft, solche Systeme aufzubauen. Umverteilung in Wohlfahrtsstaaten ist allerdings auf Geschlossenheit angewiesen, die jedoch durch die weltweit wachsende ökonomische Bedeutung von Arbeitsmigration teilweise überwunden werden muss. Welche Modelle existieren dafür? Wie verändert sich der Wohlfahrtsstaat, der in komplizierter Art und Weise mit der Legitimation moderner Demokratien verknüpft ist, in dem durch Migration in Regionalen Organisationen entstehenden transnationalen sozialen Raum? Arbeitsmigration und ihre transnationale soziale Sicherung bedingen sich gegenseitig, da eine bessere transnationale soziale Absicherung Arbeitsmigration erleichtert. Während die These des "welfare magnet" darauf abhebt, wie Wohlfahrtsleistungen Migrationsströme beeinflussen, interessieren wir uns in diesem Teilprojekt für die umgekehrte Kausalität: Wie wirkt Migration auf den Wohlfahrtsstaat im Herkunfts- und im Zielland zurück?
Regionale Organisationen erlauben Arbeitsmigration unterschiedlichen Ausmaßes und bieten aufgrund heterogener ökonomischer Entwicklung dafür auch unterschiedliche Anreize. Im Teilprojekt untersuchen wir, ob und wie in Freizügigkeitsregimen verschiedener regionaler Organisationen in Europa (EU), Asien (ASEAN) und den Amerikas (Mercosur/UNASUR) die Arbeitsmigration zur Entwicklung eines transnationalen sozialen Raums beiträgt, der auf nationale Sozialpolitik zurückwirkt. So untersuchen wir vor allem die horizontale Verflechtung. Soweit verpflichtende gemeinsame regionale Politiken zur Arbeitsmigration und ihrer Absicherung existieren, werden auch vertikale Verflechtungsbeziehungen zwischen "inter"nationaler und nationaler Politik relevant.
Wir vergleichen Mechanismen multilateraler sozialpolitischer Koordination und fragen: Wie ergänzen bilaterale Vereinbarungen und unilaterale Lösungen Ansätze multilateraler sozialer Absicherung oder wie gleichen sie ihr Fehlen aus? Unsere Analyse verschiedener Vereinbarungen zur sozialen Absicherung von Arbeitsmigration zeigt, wie Migration auf nationale Sozialpolitik zurückwirkt und sie über einen transnationalen sozialen Raum fördert oder beeinträchtigt. Das Ausmaß von Arbeitsmigration selbst wird von verschiedenen Rahmenbedingungen und der Migrationspolitik der Herkunfts- und Zielländer beeinflusst.
In Teilprojekt B04 wird also der Zusammenhang zwischen Arbeitsmigration und sozialer Absicherung mit Blick auf uni-, bi- und multilaterale Vereinbarungen zur sozialen Absicherung und ihrer Rückwirkung auf die wohlfahrtsstaatliche Politik für die immobile Bevölkerung untersucht. Dafür fertigen wir Fallstudien an, in denen wir verschiedene Mechanismen zur Erklärung des Aufbaus und der Veränderung sozialer Sicherungssysteme herausarbeiten. In der EU analysieren wir die Rolle des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), der das europäische Freizügigkeitsrecht maßgeblich gestaltet. Das Projekt zeigt auf, wie die Rechtsprechung des EuGH politische Handlungsspielräume auf europäischer, nationaler und kommunaler Ebene bestimmt. Außerdem untersuchen wir, wie sich die EU-Koordinierungsverordnungen Nr. 883/2004 und Nr. 897/2009 auf nationale Systeme der Arbeitslosenversicherung auswirken. Weitere Fallstudien erforschen die soziale Absicherung von Arbeitsmigration in Empfängerländern des Mercosur und in der ASEAN: Wir stellen fest, dass politische Debatten zur sozialen Sicherung von Arbeitsmigration in Argentinien und Malaysia von Rückbezügen auf internationale Normen geprägt sind. Die Ausgestaltung und die Durchschlagskraft dieser Rückbezüge sind allerdings vom jeweiligen politischen Regime abhängig. Schließlich erstellt das Projekt einen umfangreichen Datensatz zu nationalen Regelungen zur sozialen Absicherung von Migration in 39 Ländern in den untersuchten Regionen in den Jahren 1980 bis 2018. Der sogenannte "Migrant Social Protection" (MigSP) Datensatz wird durch eine Expertenbefragung erstellt und beinhaltet Informationen zum Zugang von Migrantinnen und Migranten zu Mindestsicherungsleistungen und Arbeitslosenversicherungen. Weiterhin werden aber auch Auswirkungen von Arbeitslosigkeit und Leistungsbezug auf den Aufenthaltsstatus sowie Regelungen zum Familiennachzug erfasst. Auf Basis des Datensatzes erforscht das Projekt mit quantitativen Methoden weitere Faktoren, die die soziale Absicherung von Migrantinnen und Migranten beeinflussen.