Dr. Dennis Niemann
Dr. Dennis Niemann
Wie beeinflussen Internationale Organisationen die globale Entwicklung von Sozialpolitik? Der vierte Band der SFB-finanzierten Reihe bei Palgrave Macmillan geht dieser Frage nach. Mit Co-Herausgeber Dennis Niemann haben wir über das Buch gesprochen.

Das Ziel eures Buches ist, die "architecture of arguments in global social governance" zu analysieren. Vereinfacht ausgedrückt, geht ihr in zwei Schritten vor: Zunächst kartiert ihr das Feld (welche IOs engagieren sich zu welchen sozialpolitischen Themen?), dann untersucht ihr den Diskurs (mit welchen Strategien versuchen die IOs, ihren Ideen und Konzepten Gehör zu verschaffen?). Fangen wir mit dem ersten Teil an: Vor gut 100 Jahren war das Feld noch übersichtlich, mit der ILO gab es genau eine IO, die sich mit Sozialpolitik beschäftigte und noch heute existiert. Wie hat sich das Feld bis heute erweitert und ausdifferenziert?

Dennis Niemann: Stimmt, der generelle Trend, dass es spätestens seit Ende des Zweiten Weltkriegs immer mehr internationale Organisationen gibt, lässt sich auch in der Sozialpolitik finden. Überaschenderwiese gibt es einige zentrale Akteurinnen, die hier annähernd das gesamte Spektrum der Sozialpolitik umspannen. Die OECD, die ILO und die Weltbank tauchen immer wieder auf und prägen diverse Bereiche. Aber auch die UNESCO, die Bildungs-, Wissenschafts-, und Kulturorganisation der UN, findet sich in vielen Sozialpolitikfeldern. Wir konnten aber auch beobachten, dass die Gesamtpopulation der Sozialpolitik-IOs mit der Zeit diverser wurde. Nicht nur die großen, bekannten IOs engagieren sich, sondern auch viele, teils regionale IOs traten auf den Plan, sozialpolitische Themen abzudecken: z.B. ASEAN, African Union oder Mercosur.

Viele IOs haben ihr Portfolio im Laufe der Zeit um sozialpolitische Themen erweitert bzw. ihr sozialpolitisches Portfolio auf weitere Felder ausgedehnt. Warum ist das so?

Dennis Niemann: Für die Gründe lassen sich zwei maßgebliche Faktoren anführen. Zum einen wurden die IOs quasi aktiv von ihren Mitgliedsstaaten beauftragt, sich mit bestimmten sozialpolitischen Themen zu beschäftigen - auch wenn sie da historisch gesehen keine große Expertise hatten. Zum Beispiel wurde die OECD, deren thematischer Schwerpunkt auf Wirtschaftspolitik lag, in den 1980er-Jahren von einigen Mitgliedsstaaten damit beauftragt, ein Instrument zu entwickeln, um nationale Bildungsleistungen zu vermessen. Heraus kam PISA und heute ist die OECD eine zentrale IO in der internationalen Bildungspolitik. Generell ist Bildungspolitik mit 30 aktiven IOs besonders dicht bevölkert. Zum anderen war diese thematische Expansion aber auch innerorganisatorischen Faktoren geschuldet. D.h. die IOs erweiterten proaktiv ihr Portfolio. Dies geschah etwa, weil sie dadurch ihre eigentliche Kernmission besser erfüllen konnten.

Nicht zu vernachlässigen ist ferner, dass bestimmte Politikfelder diskursiv um eine sozialpolitische Komponente erweitert wurden. Beispielsweise hat sich die Interpretation von Wasser als eine natürliche Ressource um eine sozialpolitische Komponente erweitert: Wasser und der Zugang dazu ist ein soziales Gut.

Kommen wir zum zweiten Teil, den Diskursen. In den sozialpolitischen Feldern sind mitunter sehr viele IOs aktiv. Üben sie sich dabei in Kooperation oder in Konkurrenz?

Dennis Niemann: Sowohl als auch. Natürlich sind die fundamentalen Sichtweisen bestimmter IOs auf Prioritäten in der Sozialpolitik durchaus divers und teils bipolar. Wo die eine Seite ökonomische Effizienz bevorzugt, wollen andere IOs zuvorderst gesellschaftlichen Zusammenhalt garantiert sehen. Diese beiden Blickwinkel sind oftmals schwerlich unter einen Hut zu bringen. Aber unmöglich ist das nicht. Wir sehen, dass bei zahlreichen Initiativen pragmatische Ansätze verfolgt werden und IOs aus unterschiedlichen "Familien" in konkreten Projekten produktiv zusammenarbeiten. Die Weltbank, OECD und ILO haben beispielsweise seit 2008 in der Familienpolitik einen gemeinsamen Ansatz entwickelt. Ähnliches lässt sich auch in Bereichen der Jugendarbeitslosigkeit und der Migration von Health Care Workers beobachten.

Ihr schreibt, dass die Tendenz zur Kooperation in den letzten ca. 10 Jahren zugenommen hat. Warum ist das so?

Dennis Niemann: Nun, ich denke, dass unterschiedliche IOs – vielleicht auch durch begonnene, eher niedrigschwellige Kooperationsprojekte – zunehmend ihre programmatischen Sichtweisen integrieren können. Wir sollten aber nicht vergessen, dass bei Sozialpolitik oftmals verschiedene Ideen weiterhin konkurrieren; nur vielleicht nicht mehr in Fundamentalopposition. Für erhöhte Kooperation spielt sicherlich auch eine Rolle, dass bestimmte Werte universeller und gültiger wurden. Ein Kristallisationspunkt hierfür waren die Millennium Development Goals und die Sustainable Development Goals der UN. Sie etablierten auch bestimmte normative Referenzpunkte für IOs in der Sozialpolitik, an denen diese ihr Argumentieren und Handeln zunehmend ausrichten. Und eine gemeinsame Wertebasis erleichtert Kooperation dann doch ungemein.

Einige IOs sind dominant im sozialpolitischen Diskurs. Welche Faktoren führen dazu, dass eine IO ein Feld dominiert oder zumindest eine einflussreiche Position einnimmt?

Dennis Niemann: In erster Linie wohl Timing und Ressourcen. Wenn IOs den Zeitgeist treffen, genießen sie eine zusätzliche Legitimation, die es ihnen ermöglicht sozialpolitische Diskurse zu bestimmen. IOs, denen auch die notwendigen Mittel zur Umsetzung ihrer programmatischen Vorgaben zur Verfügung stehen, können natürlich prägender wirken als IOs, denen diese Mittel zur Reichweitengenerierung fehlen.

Zum Abschluss ein Blick in die Zukunft: Der Einfluss von IOs auf die Sozialpolitik ist in der Vergangenheit gestiegen. Wird sich dieser Trend fortsetzen oder in einigen Bereich sogar umkehren?

Dennis Niemann: Die Glaskugel ist hier natürlich etwas vernebelt, aber prinzipiell haben wir in der Vergangenheit eigentlich immer einen Bedeutungsanstieg von IOs in der Sozialpolitik gesehen. Mir fallen momentan wenige Gründe ein, die eine Trendumkehr heraufbeschwören würden. Was ich mir allerdings vorstellen könnte, und was sich teilweise auch abzeichnet, ist, dass einzelne IOs an Bedeutung verlieren und andere, z.B. die Big Players, noch bigger werden. Ebenfalls könnte sich die diskursive Lagerbildung wieder etwas stärker ausprägen. Generell sollte man aber die sozialpolitischen Outcomes nicht außer Betracht lassen. Solange die IOs "liefern", also für sozialpolitische Problemlagen Lösungswege aufzeigen und diese mitgestalten können, werden sie weiterhin zentrale Akteurinnen in diesem Feld sein und uns noch vor viele spannende Forschungsaufgaben stellen.

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Lesen Sie das gesamte Buch, kostenfrei als Open-Access-Publikation:
Kerstin Martens, Dennis Niemann, Alexandra Kaasch (Hrsg.)(2021): International Organizations in Global Social Governance. Palgrave Macmillan. Cham


Kontakt:
Dr. Dennis Niemann
SFB 1342: Globale Entwicklungsdynamiken von Sozialpolitik, Institut für Interkulturelle und Internationale Studien
Mary-Somerville-Straße 7
28359 Bremen
Tel.: +49 421 218-58518
E-Mail: dniemann@uni-bremen.de