Sarah Berens und Franziska Deeg von Teilprojekt B03 blicken zurück auf ihre Befragungen in Mexiko und Brasilien und verraten erste Ergebnisse.Eure Datenerhebung liegt schon ein bisschen zurück: Wo und wen habt ihr befragt in Brasilien und Mexiko?
Franziska Deeg: In Mexiko haben wir die Befragung in zwei Bundesstaaten durchgeführt: Puebla und Querétaro. In Brasilien waren wir im Bundesstaat Sao Paulo. Beide Befragungen waren Household Surveys mit repräsentativer Stichprobe. Es wurden also zufällig ausgewählte Personen befragt, sowohl in der Stadt als auch auf dem Land.
Und wie viele waren es jeweils?
Deeg: In Mexiko waren es 1400 Befragte und in Brasilien 1008.
Was wolltet ihr genau herausfinden?
Sarah Berens: Wir interessieren uns für sozialpolitische Präferenzen der mexikanischen und brasilianischen Bevölkerung. Wir untersuchen, welchen Einfluss die Veränderung von Wirtschafts- und Handelsbeziehungen zwischen Ländern auf normale, durchschnittliche Bürger und deren sozialpolitische Präferenzen nimmt.
Wie seid ihr dabei vorgegangen?
Berens: Wir haben das Phänomen auf verschiedene Weise untersucht. Wir fragten zunächst: Möchten Sie, dass der Staat das Rentensystem weiter ausbaut? Oder das Gesundheitssystem? Soll der Staat dafür mehr Geld ausgeben? Wir haben verschiedene Politikfelder innerhalb der Sozialpolitik abgefragt: Einstellung zu Renten, Ausweitung der Gesundheitsversorgung und des Bildungssystems. Und auch zu Conditional Cash Transfers wie Progresa in Mexiko und Bolsa Familia in Brasilien. Außerdem haben wir auch generellere Fragen gestellt, z.B. inwieweit der Befragte für mehr oder weniger Umverteilung ist. Und zu ihren Steuerpräferenzen: progressive Einkommenssteuern, ja oder nein? Diese Batterie an Fragen erlaubt uns, die Einstellung der Befragten zum Wohlfahrtsstaat aus verschiedensten Perspektiven zu durchleuchten.
Deeg: In Mexiko haben wir noch eine Conjoint-Analyse im Rahmen der Umfrage durchgeführt. Den Befragten wird ganz konkret ein Policy-Design vorgeschlagen, welches in der Ausgestaltung variiert (Ausweitung versus Kürzung des Programms; wer soll Zugriff haben, z.B. ausschließlich formell Beschäftigte oder Jedermann; wie soll das Programm finanziert werden, Steuererhöhung für die Reichen oder z.B. ausschließlich über Beiträge). Wir fragen, inwieweit der Befragte dieses konkrete Policy-Design gut findet oder sich lieber für den angezeigten Alternativvorschlag aussprechen würde. Er oder sie soll anschließend noch bewerten, wie gut er/sie das Angebot A gegenüber dem Angebot B fand. Nicht nur das Design, sondern auch die Analyse ist nun sehr spannend.
Waren eure Fragen in Mexiko oder Brasilien unterschiedlich?
Berens: Einen Stamm an Fragen haben wir gleich gelassen, damit wir eine Vergleichbarkeit haben. Das war uns wichtig. Die sehr konkrete Conjoint-Analyse zu dem Design von Sozialpolitik war sehr spezifisch für Mexiko. Für Brasilien haben wir dafür andere Experimente designt, die unsere große Fragestellung nach dem Einfluss der wirtschaftlichen Interdependenz auf sozialpolitische Präferenzen auf unterschiedliche Weise beleuchten, so dass wir verschiedene Wege haben, um das zu erklärende Phänomen zu betrachten.
Eure Datenanalyse ist noch nicht abgeschlossen, aber gibt es schon erste Ergebnisse?
Berens: Einen Manuskriptaufsatz gibt es bereits aus den Daten zu Mexiko. Dort betrachten wir wirtschaftliche Interdependenz über den Arbeitsmarkt und Migration. Zu dem Zeitpunkt, als wir vor Ort waren, sind sehr viele Menschen aus Zentralamerika durch Mexiko in die USA gezogen. Das haben wir mit abgefragt im Rahmen des Surveys. Wirtschaftliche Interdependenz ist eben nicht nur Handel, sondern hat auch ganz konkrete Implikationen für den Arbeitsmarkt durch die Arbeitsmigration zwischen Mexiko, den USA als starken Handelspartner und als große Wirtschaftsmacht und den anderen zentralamerikanischen Staaten wie Honduras oder Nicaragua, die deutlich ärmer sind. Unser erster Manuskriptaufsatz beschäftigt sich mit diesem Einfluss verschiedener Typen von Migration auf sozialpolitische Präferenzen in Mexiko. Das Argument ist etwas komplex. Wir untersuchen ganz konkret den Einfluss zweier Gruppen: der Flüchtlinge aus Zentralamerika und der Returnees, also der mexikanischen Migranten, die eine Weile in den USA gearbeitet haben, um dann wieder zurück nach Mexiko zu kommen und dort in den Arbeitsmarkt einzutreten. Wir kontrastieren den Einfluss dieser beiden Gruppen und fragen: Haben sie unterschiedliche Auswirkungen auf sozialpolitische Präferenzen für unterschiedliche Gruppen innerhalb Mexikos? Interessanterweise zeigt sich, dass die Refugees aus Mittelamerika dahingehend keine Rolle spielen: Da sehen wir gar keine starken Effekte, vor allem bei den ärmeren Bevölkerungsschichten, die sich eigentlich besonders unter Druck fühlen und die Refugees als Konkurrenten auf dem Arbeitsmarkt wahrnehmen sollten. Vielmehr sind es die besser gebildeten Mexikanerinnen und Mexikaner, die reicheren, die sensibel auf die Rückkehrer aus den USA reagieren. Die Returnees sind Wettbewerber für die gut Ausgebildeten, weil sie in den USA bessere Skills erlangt haben. Und ohnehin sind die Leute, die in die USA gehen, im Schnitt etwas gebildeter oder besser ausgebildet. Wenn diese Gruppe zurückkommt, sehen wir einen stärkeren Einfluss auf die wohlfahrtsstaatlichen Präferenzen unter den Mexikanern.
Und was wünschen sich die besser gebildeten Mexikaner, wenn sie sehen, dass viele Rückwanderer aus den USA kommen?
Berens: Weniger Sozialstaat. Dass der Kuchen kleiner wird oder begrenzt wird. Dass nur die Mexikaner vor Ort, die im formalen Arbeitsmarkt sind, Zugang haben zu den sozialpolitischen Programmen, wie z.B. der Rente. Es gibt eine Hinwendung zu mehr Exklusion, weg von Solidarität. Das Interessante ist, dass diese Haltung gegen diejenigen gerichtet ist, die ja eigentlich Mexikaner sind. Man stört sich gar nicht so sehr an den zentralamerikanischen Ausländern, sondern man stört sich an den Landsleuten, die in die USA gegangen sind und Mexiko für eine Weile hinter sich gelassen haben, und jetzt gerne Rente hätten.
Deeg: Gerade die formell Beschäftigten sind stärker gegen die Returnees, weil die in die Systeme nicht eingezahlt haben und nun trotzdem gern Zugriff hätten auf das Sozialsystem. Es stellt sich die Solidaritätsfrage: Du warst in den USA und hast da gearbeitet. Und jetzt kommst du zurück und hast gute Chancen, auf dem Arbeitsmarkt formelle Beschäftigung zu finden, weil du auf jeden Fall relativ gesehen besser ausgebildet bist als andere Teile der Bevölkerung. Und dann sollst du aber trotzdem keinen Zugang zu sozialen Gütern haben.
Gilt das auch für die Krankenversicherung?
Berens: In Mexiko ist das Gesundheitssystem reformiert worden und ist nun universell. Zur Gesundheitsversorgung haben auch Leute Zugang, die nicht eingezahlt haben. Das Rentensystem ist hingegen beitragsbasiert, nur wer eingezahlt hat, bekommt Leistungen. Das ist das Spannende an unserem Projekt: Dadurch, dass wir verschiedene Politikfelder betrachten, die sich unterscheiden in der Zugänglichkeit für verschiedene Gruppen, können wir schauen: Wo geht es hier um Solidarität oder um Ausgrenzung?
Deeg: Genau deswegen ist das Argument in dem Paper auch so komplex, weil wir uns zwei Gruppen von Migranten angucken - die Refugees und die Returnees. Und dann unterscheiden wir in Mexiko zwischen den formell und den informell Beschäftigten bzw. nach dem Skill-Level. Hinzu kommen dann noch verschiedene Arten von Sozialleistungen, die unterschiedlich geöffnet sind für verschiedene Gruppen. Das alles macht die Argumentation relativ komplex.
Wie sieht es in Brasilien aus?
Berens: Da stecken wir noch in großen Datenbergen. Zum Analysieren sind wir noch nicht gekommen. Für die zweite Hälfte des Projekts wird es unser Vorhaben sein, diese Daten zu analysieren, verschiedene Experimente auszuwerten und im Vergleich zu gucken, wo die Unterschiede zwischen Mexiko und Brasilien sind.
Deeg: Brasilien ist handelspolitisch auch sehr interessant. Bei Mexiko hat man die starke Abhängigkeit zu den USA, Brasilien ist schon ein bisschen diversifiziert aufgestellt, obwohl es eine Abhängigkeit zum Beispiel gegenüber China gibt. Es gibt auf jeden Fall interessante Dynamiken, gerade weil auch die Art der Exporte aus beiden Ländern unterschiedlich ist. Deswegen ist es auf jeden Fall spannend, dies genauer anzugucken.
Hattet ihr in Brasilien auch einen speziellen Blickwinkel wie im Falle Mexikos, wo ihr speziell auf die Migration geschaut habt?
Berens: Wir haben dort auch die Migration in den Blick genommen, weil wir gesehen haben, dass sie so eine große Rolle in Mexiko spielt und wir die Möglichkeit haben wollten, mit dem brasilianischen Daten dazu eine Aussage zu machen. Aber Migration in Brasilien ist ganz anders. Die Gruppe der Migranten, die eine stärkere Rolle spielt, kommt vor allem aus Venezuela. Und dann gibt es eine kleinere Gruppe von Haitianern, die durch Armut und Staatsversagen aus Haiti getrieben werden und die überwiegend negativ wahrgenommen werden in Brasilien.
Deeg: Außerdem betrachten wir auch die innerstaatliche Migration. Viele Menschen aus dem Norden Brasiliens wandern in den Süden ab, weil es dort mehr Arbeitsplätze gibt. Diese Binnenmigranten werden auch sehr negativ wahrgenommen in den Städten. Es wir die Frage aufgeworfen, ob diese Migranten Zugang zu Sozialleistungen haben sollen oder nicht. Was die Solidarität innerhalb des Landes auf die Probe stellt.
Kontakt:Dr. Sarah Berens
Franziska Deeg