News aus dem Teilprojekt B02 (2018-2021)


Jour Fixe mit Prof. Sara Niedzwiecki am Mittwoch, 19.06.2024

Als letzte Veranstaltung unserer SFB 1342 Jour Fixe-Vorlesungsreihe im Sommersemester hielt Sara Niedzwiecki von der University of California, Santa Cruz, am 19. Juni 2024 einen Vortrag über "Immigrants and the Welfare State in Latin America. Barriers to access". Der Vortrag wurde nicht nur von zahlreichen Kolleginnen und Kollegen vor Ort besucht, sondern konnte auch über ein Videokonferenzformat verfolgt werden.

Abstract:

Countries in the Global South experienced a massive increase in immigration in the past decade, with more migrants ending up there than in the Global North. Within South America, over seven million Venezuelans have left their country since 2015, leading to an extraordinary scale of intraregional migration. During these same years, and due to the expansion of social programs, millions of citizens in the region accessed basic income and better-quality healthcare, many for the first time. This talk studies these dual trends and analyzes whether social policies effectively incorporate immigrants. Failing to provide newcomers with a basic standard of living produces social exclusion. It shows that immigrants have more impediments to accessing the welfare state than citizens, even for universal public health, but especially for targeted social assistance. This derives from a combination of political elites’ views around the degree to which immigrants “deserve” access to different types of policies. The research focuses on the barriers that immigrants face to accessing social policy in middle-income South American countries with high rates of immigration—Argentina, Brazil, Chile, and Colombia. Barriers to access are measured through qualitative coding of social assistance, social pensions, and public healthcare that build on legal documents, information requests, and secondary literature from 1990 to 2023, and public officials’ views are measured through in-depth interviews. In analyzing barriers to accessing social policy, this study contributes to the literatures on comparative welfare states and immigration, as well as comparative social policy in middle income countries. 

Sara Niedzwiecki is Associate Professor of Politics at the University of California, Santa Cruz. She studies social policy, subnational politics, and immigration in Latin America. Sara is the author of Uneven Social Policies: The Politics of Subnational Variation in Latin America (2018, Cambridge University Press), which was awarded LASA's Donna Lee Van Cott Book Award from The Political Institutions Section and the International Public Policy Association's IPPA Book Award. She also co-authored Measuring Regional Authority: A Postfunctionalist Theory of Governance (Oxford University Press, 2016). Sara has authored and co-authored articles in Comparative Political Studies, Electoral Studies, Latin American Politics and Society, Studies in Comparative International Development, Regional and Federal Studies, PS: Political Science and Politics, International Political Science Review, among other peer-reviewed journals. During 2020-2021 academic year, Sara was a fellow at the University of Notre Dame’s Kellogg Institute for International Studies where she worked on a new project on social policy and immigration in South America.

Website: saraniedzwiecki.com


Kontakt:
Prof. Dr. Delia González de Reufels
SFB 1342: Globale Entwicklungsdynamiken von Sozialpolitik, Institut für Geschichtswissenschaft / FB 08
Universitäts-Boulevard 13
28359 Bremen
Tel.: +49 421 218-67200
E-Mail: dgr@uni-bremen.de

Prof. Natalia Sobrevilla Perea, Universität Kent
Prof. Natalia Sobrevilla Perea, Universität Kent
Prof. Natalia Sobrevilla Perea, Universität Kent

Im Rahmen des Jour Fixes des SFB 1342 am 12. Juli 2023 präsentierte Prof. Natalia Sobrevilla Perea von der Universität Kent ihre aktuellen Forschungsergebnisse zur Entstehung der Sozialfürsorge in der Peruanischen Armee im 19. Jahrhundert. In ihrem Vortrag gab sie Einblicke in ihr kurz vor Veröffentlichung stehenden Buch "Armed citizens and citizens in arms, the military and the creation of Peru (1800-1870)", das bei Cambridge University Press erscheinen wird.

Sie erläuterte ihre historische Forschungsarbeit zur Geschichte des peruanischen Militärs und erörterte ihre Erkenntnisse, inwiefern das Militär als Institution die erste Organisation innerhalb des Staates war, die ihren Mitgliedern spezifische soziale Sicherungssysteme in Hinblick auf Gesundheitsvorsorge, Alterssicherung und Hinterbliebenenleistung sowie Invalidenversorgung bereitstellte. Mit den zahlreichen Teilnehmenden diskutierte Natalia Sobrevilla Perea im Anschluss an ihren Vortrag über die Ursprünge, Strukturen und Prozesse dieser Entwicklungsgeschichte.

Natalia Sobrevilla Perea ist Professorin für Lateinamerikanische Geschichte an der School of Cultures and Languages der Universität Kent. Zu ihren Forschungsinteressen zählen Staatsbildung und politische Kultur in den Anden vom Ende der Kolonialzeit bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. Darüber hinaus beschäftigt sie sich mit Fragen der Identität und ethnischen Zugehörigkeit in Peru sowie mit militärischer Kultur im 19. und 20. Jahrhundert in Südamerika.

Veröffentlichungen:

Sobrevilla Perea, N. (2023) ‘The Abolition of Slavery in the South American Republics’, Slavery and Abolition. Taylor & Francis, S. 90-108. doi: 10.1080/0144039X.2022.2122814.

Eastman, S. und Sobrevilla Perea, N. (2022) Independence and Nation-Building in Latin America. Race and Identity in the Crucible of War. New York, United States: Routledge. Abrufbar unter: https://www.routledge.com/Independence-and-Nation-Building-in-Latin-America-Race-and-Identity-in/Eastman-Perea/p/book/9780367820718.

Sobrevilla Perea, N. (2023) ‘Emerging States’, in Posada-Carbo, E., Innes, J., and Philp, M. (eds) Re-imagining Democracy in Latin America and the Caribbean, S. 1780-1870. Oxford, UK: Oxford University Press. Abrufbar unter: https://global.oup.com/academic/product/re-imagining-democracy-in-latin-america-and-the-caribbean-1780-1870-9780197631577?cc=fi&lang=en&#.


Kontakt:
Prof. Dr. Delia González de Reufels
SFB 1342: Globale Entwicklungsdynamiken von Sozialpolitik, Institut für Geschichtswissenschaft / FB 08
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Konferzenzbericht

Nach dem Zweiten Weltkrieg mahnte Winston Churchill: "Never let a good crisis go to waste" und wies damit auf das Potenzial hin, dass jede Krise mit sich bringt. Diese Äußerung Churchills war auch den internationalen Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Konferenz "Die Wirtschaftskrise und die Sozialpolitik im 20. Jahrhundert" am 1. und 2. Dezember 2022 bekannt, die von der Projektleitung des Teilprojekts B11, Prof. Delia González de Reufels und Prof. Cornelius Torp, organisiert wurde.

Im Mittelpunkt der Konferenz standen die beiden wichtigsten weltweiten Rezessionsphasen des 20. Jahrhunderts: die Weltwirtschaftskrise der späten 1920er und 1930er Jahre und die krisengeprägte Zeit vom Ölpreisschock Anfang der 1970er Jahre bis zur asiatischen Finanzkrise und den wirtschaftlichen Turbulenzen in Lateinamerika am Ende des Jahrtausends. Von diesen Krisen gingen wichtige Impulse für den sozialen Bereich aus und die Konferenz versuchte, diese Entwicklungen zu beleuchten. Waren wirtschaftliche Schocks jemals wirklich globaler Natur? Inwieweit prägt die Erinnerung an frühere Krisen die Reaktionen auf erneuten wirtschaftlichen Abschwung? Und in welchem Verhältnis stehen diese Krisen zur Sozialpolitik? Diese übergeordneten Fragen prägten die Vorträge und Diskussionen.

In der ersten Vortragsrunde ging es um das Zusammenspiel von Krisen, Ungleichheit und Sozialreformen. Phillip Rehm erläuterte zunächst, wie sich Krisen auf die gesellschaftliche Risikowahrnehmung und die Schaffung des Wohlfahrtsstaates auswirken. Sein Modell verknüpft "Risk flips" während einer Krise mit einer erhöhten Präferenz für Sozialprogramme. Paul Dutton zeigte dann auf, wie Historiker*innen eine neue Perspektive für die Analyse ungleicher Gesundheitsverhältnisse in der Bevölkerung einbringen können, indem sie über die medizinische Versorgung als alleinige Determinante der Gesundheit einer Gesellschaft hinausblicken.

Martin Daunton, Jason Scott Smith und Daniel Béland stellten im zweiten Diskussionspanel ihre Forschungsarbeiten über die Wirtschaftskrise der 1930er Jahre und ihre Folgen in Großbritannien, den Vereinigten Staaten und Kanada vor. Sie konzentrierten sich auf die Straffung des Steuersystems, die Ausgaben für öffentliche Arbeitsprogramme und die unterschiedlichen Auswirkungen der Zentralisierung im Vergleich zum Föderalismus auf die Umsetzung der Sozialpolitik. So gelang es ihnen, die Reaktionen der anglophonen Länder auf die Krise und die von ihnen eingesetzten Instrumente aufzuzeigen.

In der dritten Vortragsrunde erläuterten Klaus Petersen und Ángela Vergara die Entwicklung Dänemarks und Lateinamerikas von der Weltwirtschaftskrise in den 1930er Jahren bis zu den Ölschocks in den 1970er Jahren und der daraus resultierenden Schuldenkrise in Lateinamerika in den 1980er Jahren. Indem sie sowohl interne als auch externe Einflüsse untersuchten, beleuchteten sie die Diskurse, die es den untersuchten Ländern ermöglichten, verschiedene Formen der Sozialpolitik zu etablieren.

Die Referierenden des vierten Panel der Konferenz beleuchteten die Rolle der beschäftigungspolitischen Reformen in Südkorea und Japan im Vergleich und untersuchten Arbeits- und Sozialpolitik als Reaktion auf die Krise in Australien. Juyoung An forderte dazu auf, der Gewerkschaftsstrategie größere Aufmerksamkeit zu schenken, um die unterschiedlichen sozialpolitischen Ergebnisse zu verstehen, während Gaby Ramia die Besonderheit des australischen "Wohlfahrtsstaates der Lohnempfänger*innen" hervorhob.

Zum Abschluss des ersten Tages der Konferenz stellte Carmelo Mesa-Lago in einem Vortrag seine Erkenntnisse über die Rentenprivatisierung in elf lateinamerikanischen Ländern in den Jahren zwischen 1980 und 2020 vor. Er zeigte auf, dass mit Ausnahme einer erhöhten Kapitalisierung der Pensionsfonds keines der Privatisierungsversprechen - von der Angemessenheit der Maßnahmen und der Einbeziehung vieler Beitragszahlenden bis hin zur Vereinfachung des Systems - erfüllt wurde.

Am zweiten Konferenztag beleuchteten Paolo Mattera, Raquel Varela und Paul Stubbs die Auswirkungen von Wirtschaftskrisen auf die Entwicklung des Wohlfahrtsstaates in den beiden Regionen Südeuropa und Südosteuropa. Die Absicht italienischer politischer Akteure, die heimische Steuerpolitik an den Entscheidungen anderer europäischer Länder auszurichten, das Streben Jugoslawiens nach einem ideologisch unabhängigen Narrativ der Blockfreiheit oder radikale interne Veränderungen wie die Nelkenrevolution in Portugal prägen Entscheidungen im Bereich der Sozialpolitik in den jeweiligen Ländern.

Cecilia Rossel und Andrés Solimano stellten ihre Arbeiten über zwei Länder der Südhalbkugel vor: Uruguay und Chile. Die Bankenkrise in Uruguay zu Beginn des 21. Jahrhunderts führte zu einem grundlegenden Wandel in der Sozialpolitik, um einer Verschiebung der Präferenzen für sozialpolitische Maßnahmen entgegenzuwirken. Die Daten deuten darauf hin, dass diese Finanzkrise dazu führte, die Grundsätze des "Washington Consensus" von 1989 zu überdenken. Andrés Solimanos Arbeit lenkt die Aufmerksamkeit in ähnlicher Weise auf die komplexe Beziehung zwischen der zunehmenden sozioökonomischen Ungleichheit in Lateinamerika in der Zeit der Liberalisierung sowie den Antworten im Bereich der Sozialpolitik andererseits.

Die Entwicklung der Sozialpolitik im Angesicht der Krise in Asien, so der Titel des siebten Panels, wurde am Beispiel Chinas erläutert. Laut Aiqun Hu waren die Reformen für soziale Sicherheit, die die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts prägten, eine Reaktion auf die Beschäftigungskrise im China der 1970er Jahre. Die Analyse zeigt, wie die Auswirkungen einer Wirtschaftskrise im Bereich der Sozialpolitik im besonderen Fall eines Systems der zentralen Planwirtschaft angegangen wurden.

Eine lebhafte Debatte rundete den zweiten Tag und damit die Konferenz ab. Insgesamt unterstrich die Konferenz die Notwendigkeit, das Phänomen "Krise" sowohl auf theoretischer als auch auf empirischer Ebene zu bewerten. Die detaillierte Untersuchung der Auswirkungen von Wirtschaftskrisen auf die Sozialpolitik aus trans- und länderübergreifender sowie historischer Perspektive ist ein wichtiges Unterfangen, das, wie die Teilnehmenden betonten, noch lange nicht abgeschlossen ist. Künftige Arbeiten könnten daher das Feld bereichern, indem beispielsweise afrikanische Länder einbezogen werden. Darüber hinaus sind verschiedene Aspekte wie das Geschlecht und die Kategorien von Arbeit, die beispielsweise zwischen formeller und informeller Arbeit unterscheiden, Faktoren, die mehr Aufmerksamkeit verdienen. Die Konferenz verdeutlichte, dass die Verbindung zwischen Wirtschaftskrisen und Sozialpolitik ein wesentlicher Forschungsbereich ist, der das Potenzial hat, das übergreifende SFB-Thema der globalen Entwicklungsdynamiken von Sozialpolitik zu erhellen.

 


Kontakt:
Prof. Dr. Delia González de Reufels
SFB 1342: Globale Entwicklungsdynamiken von Sozialpolitik, Institut für Geschichtswissenschaft / FB 08
Universitäts-Boulevard 13
28359 Bremen
Tel.: +49 421 218-67200
E-Mail: dgr@uni-bremen.de

Prof. Dr. Cornelius Torp
Welche Sozialpolitiken verfolgten Ost- und Westeuropa im Kalten Krieg? Welchen Einfluss hatte die Systemkonkurrenz? Wie verlief die Transformationsphase ab 1989? Diesen Fragen widmete sich die 4. Hermann-Weber-Konferenz in Berlin.

Für den Westen stellte der kommunistische Sozialstaat eine zentrale Herausforderung im Wettbewerb der Systeme dar. Im Wettbewerb der Systeme sollte auch die sozialpolitische Überlegenheit demonstriert werden. Das Ende des Kalten Krieges und der Wegfall des Legitimationsdrucks gegenüber dem jeweils anderen System wiederum waren Gründe für die Sozialstaatsreformen in den 1990er- und 2000er-Jahren in Ost und West, die auf der Konferenz ebenfalls diskutiert wurden.

Vom SFB 1342 nahmen sechs Wissenschaftler:innen teil:

  • Herbert Obinger erläuterte die Grundlagen des Verhältnisses von Kaltem Krieg, Kommunismus und Sozialpolitik
  • Carina Schmitt und Maria Ignatova-Pfarr hielten einen Vortrag über die Rentenpolitik Bulgariens während des Kalten Krieges
  • Delia González des Reufels hielt einen Vortrag zu der Sozialpolitik der letzten chilenischen Militärdiktatur im Kalten Krieg
  • Cornalius Torp hielt einen  Vortrag zur Rentenpolitik in Ost- und Westdeutschland im Kalten Krieg
  • Lukas Grawe hielt einen Vortrag zur Legitimation pronatalistischer Familienpolitik in der DDR.


Die 4. Hermann-Weber-Konferenz fand vom 8. Bis 10. Juni 2022 in Berlin statt. Veranstalter waren die vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales geförderte Nachwuchsgruppe „Der ‚aktivierende Sozialstaat‘ – eine Politik- und Gesellschaftsgeschichte deutscher Sozialpolitik, 1979–2017“ am SOCIUM der Universität Bremen und das Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung. Gefördert wurde die Konferenz durch die Gerda-und-Hermann-Weber-Stiftung.


Kontakt:
Prof. Dr. Delia González de Reufels
SFB 1342: Globale Entwicklungsdynamiken von Sozialpolitik, Institut für Geschichtswissenschaft / FB 08
Universitäts-Boulevard 13
28359 Bremen
Tel.: +49 421 218-67200
E-Mail: dgr@uni-bremen.de

Dr. Lukas Grawe
Maria Ignatova-Pfarr
SFB 1342: Globale Entwicklungsdynamiken von Sozialpolitik
Mary-Somerville-Straße 3
28359 Bremen
Tel.: +49 421 218-57057
E-Mail: ignatova@uni-bremen.de

Prof. Dr. Herbert Obinger
SFB 1342: Globale Entwicklungsdynamiken von Sozialpolitik
Mary-Somerville-Straße 5
28359 Bremen
Tel.: +49 421 218-58567
E-Mail: herbert.obinger@uni-bremen.de

Prof. Dr. Carina Schmitt
Feldkirchenstraße 21
96045 Bamberg
Tel.: 0951-863 2734
E-Mail: carina.schmitt@uni-bamberg.de

Prof. Dr. Cornelius Torp
Dr. Simon Gerards Iglesias
Dr. Simon Gerards Iglesias
Der Historiker hat in seiner Arbeit die Sozialpolitik Argentiniens in den Jahren 1919 bis 1943, das Wirken relevanter Akteure und den Einfluss der ILO untersucht.

Simon Gerards Iglesias hat in dem Ende 2021 abgeschlossenen Teilprojekt Herausbildung, Aus- und Umbau des Sozialstaats im Cono Sur im Austausch mit (Süd-)Europa (1850-1990) promoviert, das von Delia González de Reufels geleitet wurde. Seine Doktorarbeit trägt den Titel "Argentine Social Policy and the International Labour Organization, 1919-1943. Conflicts, Debates, and Cooperation".

Darin hat Gerards Iglesias die wichtigsten Akteure der damaligen Zeit identifiziert und in seiner Archivarbeit rekonstruiert, welche internationalen Einflüsse deren Entscheidungen beeinflusst haben. Dabei kommt der Internationalen Arbeitsorganisation eine herausragende Stellung zu, die in Buenos Aires ihre südamerikanische Zweigstelle eröffnete, was den ohnehin regen Austausch mit argentinischen Akteuren intensivierte. "Die ILO wirkte als Plattform und Scharnier der Wissensgenerierung in der [argentinischen] Sozialpolitik", sagt Gerards Iglesias. Große vergleichende Studien, umfangreiche Archive und Bibliotheken waren dabei wichtige Faktoren.

Die ILO hatte aber nur mittelbaren Einfluss auf die Gestaltung der argentinischen Sozialpolitik: "[In Argnetinien] wurden Konventionen erst sehr spät ratifiziert und nur in gewissen Bereichen umgesetzt“, sagt Gerards Iglesias. „Es gab ein cherry picking von Konventionen für die Bereiche, wo es bereits sehr ausgefeilte Gesetze gab. Dadurch wirkten sich die Konventionen meist weder positiv noch negativ auf die argentinische Gesetzgebung aus."

Simon Gerards Iglesias war seit 2019 Mitglied im SFB 1342. Nun wechselt er zum Institut der deutschen Wirtschaft in Köln.


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Simon Gerards Iglesias
Der siebte Band der Palgrave-Macmillan-Reihe "Global Dynamics of Social Policy" beleuchtet in 39 Essays, wie inter- und transnationale Einflüsse die Sozialpolitik in verschiedensten Teilen der Welt beeinflusst haben.

Der Sammelband mit dem Titel "International Impacts on Social Policy - Short Histories in Global Perspective" wurde von Frank Nullmeier, Delia González de Reufels und Herbert Obinger herausgegeben und verdeutlicht in 39 zeitlich begrenzten Fallbeispielen die Bedeutung inter- und transnationaler Einflüsse für die Entwicklung nationalstaatlicher Sozialpolitik weltweit. Das Buch ist in vier Abschnitte gegliedert, in denen die Bedeutung von (1) Gewalt, (2) Internationalen Organisationen, (3) Handelsbeziehungen und Wirtschaftskrisen sowie von (4) Ideen, Netzwerken von Expert:innen und Migration analysiert wird. Die Beiträge illustrieren wichtige Teile der Ergebnisse, die der SFB 1342 und seine 15 Teilprojekte in der Zeit von 2018 bis 2021 erarbeitet haben.

Wie alle Teile der Reihe Global Dynamics of Social Policy erscheint auch dieser Band im Open-Access-Format, um die Forschungsergebnisse des SFB 1342 für die wissenschaftliche Community in allen Teilen der Welt leicht zugänglich zu machen.

Auf den Seiten von Palgrave Macmillan/Springer stehen der Gesamtband sowie die einzelnen Beiträge kostenlos zum Download zur Verfügung:

Frank Nullmeier, Delia González de Reufels, Herbert Obinger (Hg.)(2022): International Impacts on Social Policy - Short Histories in Global Perspective, Cham: Palgrave Macmillan.


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Prof. Dr. Delia González de Reufels
SFB 1342: Globale Entwicklungsdynamiken von Sozialpolitik, Institut für Geschichtswissenschaft / FB 08
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E-Mail: dgr@uni-bremen.de

Prof. Dr. Frank Nullmeier
SFB 1342: Globale Entwicklungsdynamiken von Sozialpolitik
Mary-Somerville-Straße 7
28359 Bremen
Tel.: +49 421 218-58576
E-Mail: frank.nullmeier@uni-bremen.de

Prof. Dr. Herbert Obinger
SFB 1342: Globale Entwicklungsdynamiken von Sozialpolitik
Mary-Somerville-Straße 5
28359 Bremen
Tel.: +49 421 218-58567
E-Mail: herbert.obinger@uni-bremen.de

Simon Gerards Iglesias
Simon Gerards Iglesias
Anknüpfend an seine Dissertation im abgeschlossenen Teilprojekt B02 spricht der Historiker über die Niederschlagung der Arbeiterproteste in Argentinien Anfang des Jahres 1919 und die kurze Zeit später stattfindende Gründung der ILO.

Das Institut für Geschichtswissenschaft der Universität Bremen hat einen eigenen Podcast ins Leben gerufen. In der Interviewreihe, an deren Konzeption das ehemalige SFB-Mitglied Simon Gerards Iglesias maßgeblich beteiligt war, sprechen Mitarbeiter*innen des Instituts über relevante und zugleich anschauliche Bereiche ihrer Forschungsarbeit.

Den Anfang der Reihe übernimmt Gerards Iglesias gleich selbst: Im Gespräch mit der Institutsgeschäftsführerin Imke Sturm-Martin beleuchtet er, wie die Anfang 1919 blutig niedergeschlagenen Arbeiterproteste in Argentinien mit der kurz darauf erfolgten Gründung der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) zusammenhängen und welche Rolle die ILO anschließend bei der Entwicklung der argentinischen Sozialpolitik spielte.

Der Podcast: Aufstand transnational - Was Argentiniens wütende Arbeiter mit Genfer Gesetzen zu tun hatten

Simon Gerards Iglesias ist Wirtschafts- und Sozialhistoriker und forscht zur Geschichte Lateinamerikas an der Universität Bremen. Er war von 2019 bis Ende 2021 Mitglied im SFB 1342, wo er im mittlerweile abgeschlossenen Teilprojekt B02 Herausbildung, Aus- und Umbau des Sozialstaats im Cono Sur im Austausch mit (Süd-)Europa (1850-1990) geforscht hat. In seiner Dissertation beschäftigt er sich mit transnationaler Geschichte und dem Verhältnis zwischen Argentinien und der Internationalen Arbeitsorganisation.


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Simon Gerards Iglesias
Simon Gerards Iglesias, Prof. Dr. Delia González de Reufels
Simon Gerards Iglesias, Prof. Dr. Delia González de Reufels
Delia Gonzalez des Reufels und Simon Gerards stellten ihre Forschungsresultate vor der Vereinigung der europäischen Lateinamerikahistoriker*innen in Paris vor.

Vom 23.-27. August 2021 fand in Paris der Kongress der AHILA statt, bei dem Delia González de Reufels und Simon Gerards Iglesias von Teilprojekt B02 ihre Forschungsergebnisse im Rahmen eines eigenen Panels zur Geschichte der Sozialpolitik in Lateinamerika vor- und zur Diskussion gestellt haben. Unter dem Titel "Los vínculos de las políticas sociales estatales en Amércia Latina y sus representaciones mediáticas, siglos XIX y XX" führte das zweitägige Panel etablierte Historiker*innen zusammen, die über ihre Projekte zur Geschichte der staatlichen Sozialpolitik und deren mediale Repräsentation gesprochen haben.

Die Schwerpunkte lagen auf den Politikfeldern Arbeit, Bildung Gesundheit und Wohnen, deren historische Entwicklung sowie besondere sozialpolitische Instrumente beleuchtet wurden. Dabei wurden von den Beiträgen sowohl die nationalstaatlichen Bedingungen in den Ländern Argentinien, Brasilien, Chile, Mexiko und Uruguay als auch die Prozesse transnationalen Austausches, des Transfers von Wissen und Ideen beleuchtet. Die Bedeutung von gender für die historische Analyse von Sozialpolitik trat hier ebenso hervor wie die Rolle der Fotografie und des Mediums Film bzw. des Fernsehens. So trugen Claudia Agostoni von der UNAM in Mexiko, Washington Dener Santos Cunha von der Universidade do Estado do Rio do Janeiro in Brasilien und Maria Rosa Gudiños von der Universidad Nacional Pedagógica in Mexiko sowie acht lateinamerikanische Nachwuchshistoriker*innen vor, die auch die Forschungsprobleme und die besonderen Herausforderungen der Empirie diskutierten.

Delia González de Reufels legte in ihrem Beitrag den Schwerpunkt auf die Rolle der chilenischen Streitkräfte für die Entwicklung von Sozialpolitik seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert und die Verbindungen zwischen „warfare and welfare“ in diesem Pionierland lateinamerikanischer Sozialpolitik. Simon Gerards Iglesias stellte sein Dissertationsprojekt über die Beziehungen Argentiniens zur Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) vor und unterstrich die Bedeutung der transnationalen Wissensproduktion für die Herausbildung von Sozialpolitik. Martín Cortina Escudero, der im SFB-Teilprojekt B03 forscht, hat seine Erkenntnisse zur Bedeutung der kolonialen Vergangenheit für die Herausbildung von Sozialpolitik ebenso vorgestellt wie Teresa Huhle, die den SFB 1342 in diesem Frühjahr verlassen hatte, und zur Verbindung zwischen Bildung und Gesundheit am Beispiel der uruguayischen „Freiluftschulen“ gesprochen hat.

Die AHILA (Asocicación de Historiadores Latinomaericanistas) ist die Vereinigung der europäischen Lateinamerikahistoriker*innen, die Ende der 1970er-Jahre, mitten im Kalten Krieg, aus den Treffen der europäischen Amerikanisten hervorging. Ihr gehörten von Anfang an auch in Europa lebende Lateinamerikaner*innen sowie europäische Historiker*innern an, die jenseits des sogenannten Eisernen Vorhangs zur lateinamerikanischen Geschichte lehrten und forschten. Der Kongress der AHILA findet alle drei Jahre statt.

Der Kongress wurde organisiert und durchgeführt von den Historikerinnen Annick Lemprière, und Genevieve Verdó von der Université Paris 1, Panthéon-Sorbonne und dem dort angesiedelten Centre de Recherches d’histoire de l’Amérique Latine et du Monde Ibérique“, einem wichtigen Zentrum der europäischen Lateinamerikaforschung.  Delia González de Reufels steht seit den 1990er-Jahren im Austausch mit den Historikerinnen der Université Paris 1, Panthéon-Sorbonne und hat 2012 ein ERASMUS-Abkommen mit der Sorbonne geschlossen. Diese Kooperation soll in den nächsten Jahren fortgesetzt werden.


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Simon Gerards Iglesias, Prof. Dr. Delia González de Reufels
Simon Gerards Iglesias, Prof. Dr. Delia González de Reufels
Delia González de Reufels und Simon Gerards Iglesias sprechen über die Ergebnisse von Teilprojekt B02, wie sie mit pandemiebedingten Einschränkungen umgegangen sind und was an der Kooperation von Geschichts- und Politikwissenschaft besonders reizvoll ist.

Ihr standet vor der Mammutaufgabe, 90 Jahre sozialpolitische Entwicklung in drei Ländern zu untersuchen - wie habt ihr diese Aufgabe strukturiert?

Simon Gerards Iglesias: Für die drei Länder gibt es unterschiedliche Schwerpunkte. Ich untersuche den Fall Argentinien und habe einen Schwerpunkt auf die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) gesetzt, die erst seit 1919 existiert. Als zentralen Untersuchungszeitraum habe ich die Folgejahre bis zum Zweiten Weltkrieg definiert, denn in dieser Phase beherrschten bestimmte Strukturen die Beziehungen zwischen der ILO und Argentinien und es wurde der Grundstein für die zukünftige Entwicklung der Beziehungen gelegt.

Der Untersuchungszeitraum im Teilprojekt ist in der Tat lang, dennoch lässt er sich sinnvoll betrachten, weil er von langen Entwicklungslinien durchzogen ist. Was immer wichtig war, ist etwa der der transnationale Wissensaustausch. Das sehe ich auch in Argentinien vom 19. Jahrhundert bis heute: Dort wird immer geschaut: Was passiert in Europa? Und noch ein Punkt: Wir finden gewisse Pfadabhängigkeiten. Wenn wir z.B. die Arbeitsschutzgesetze für Frauen in Argentinien und anderen lateinamerikanischen Staaten betrachten, stellen wir fest, dass hier sehr früh durchaus restriktive Regelungen bestanden. Sie waren tatsächlich restriktiver als in Europa. In Argentinien gab es Gesetzte wie z.b. die Ley de silla, übersetzt als das „Stuhlgesetz“: In jedem Industriebetrieb musste für jede angestellte Frau ein Stuhl zur Verfügung stehen, der für Erholungspausen gedacht war. Denn in Argentinien war die Gesundheit von Frauen vor allem mit der Sorge um die Gesundheit von Müttern und damit der zukünftigen Generation verknüpft, weshalb man Frauen mehr Erholungspausen auf der Arbeit zugestand. Auch heute noch findet man dieses Gesetz in einer gewissen Form sodass aufmerksame Reisende in Argentinien überall Stühle, selbst an den kuriosesten Orten entdecken können. Der Hintergrund erschließt sich aber nur denjenigen, die einen Bezug zu den argentinischen Arbeitsschutzgesetzen herstellen können.

Delia González de Reufels: An dem von Simon genannten Beispiel sieht man sehr deutlich, dass die Sozialpolitik bis heute sichtbare Spuren hinterlassen und auf die Anliegen der jeweiligen Länder reagiert hat: Die Länder des Cono Sur hatten im 19. und auch im frühen 20. Jahrhundert prekäre Demographien. In Europa, wo die sich die Bevölkerung damals exponentiell entwickelte, mögen Arbeitgeber relativ gelassen darauf geschaut haben, dass auch schwangere Frauen an der Maschine stehen und extreme Arbeitszeiten hatten. Das war im Cono Sur allerdings anders: Dort gab es weniger Kinder und das wurde als Problem benannt und von der Sozialpolitik aufgegriffen. Das „Ley de silla“ mag heute skurril anmuten, aber die Zukunft der Nation entschied sich damals durchaus auch an der Werkbank, zumindest dann, wenn eine schwangere Frau an ihr stand. Wenig überraschend war die Bevölkerungsentwicklung eine der Entwicklungslinien, entlang derer sich gesellschaftliche Diskussionen entsponnen, die man sehr gut über 90 Jahre verfolgen kann.

Und während dieser neun Jahrzehnte überschlagen sich ja glücklicherweise nicht alljährlich die Ereignisse. Es ist eher ein Prozess der Anreicherung mit wichtigen Punkten der Kulmination. Es bedurfte ja zunächst einmal eines Problembewusstseins. Der Staat nahm sich nicht sofort aller Probleme an, sondern traf eine Auswahl. In Chile beginnt unser Untersuchungszeitraum im 19. Jahrhundert, und im Jahre 1850 äußerte die Regierung erstmals, es könne nicht angehen, dass die Menschen in die Krankenhäuser gingen, um dort zu sterben. Diese waren so schlecht ausgestattet, dass Patienten keine Chance hatten, geheilt zu werden. 1850 wird also erstmals darüber diskutiert, wie staatliches Geld, genauer: Einnahmen aus Handel und Zöllen, in die Entwicklung eines funktionierenden Krankenhauswesens umgeleitet werden können. Gesundheit war bis dahin Privatsache, aber 1850 tritt der chilenische Staat erstmals in diese Verantwortung ein und beginnt, öffentliche Gesundheit als ein Feld politischen Handelns zu begreifen. Und ab diesem Moment erweitert sich der Bereich der Gesundheitspolitik um weitere Elemente. Um dies zu beobachten, sind die 90 Jahre eigentlich ideal.

Eure Arbeit ist nicht nur räumlich, sondern auch thematisch aufgeteilt. Delia, du untersuchst in Chile vor allem die Entwicklung der Gesundheitspolitik, Simon in Argentinien den Arbeitsschutz. Wie kam es zu dieser Aufteilung?

Delia González de Reufels: Alle sozialpolitischen Felder wirken natürlich in allen diesen Ländern. Aber für den Fall Chiles habe ich festgestellt, dass viele Entwicklungen im Arbeitsschutz aus dem Gesundheitsschutz hervorgegangen sind. Also aus der Beobachtung, dass bestimmte Arbeitsverhältnisse die Gesundheit der Menschen unterminieren. Diese Beobachtung wurde fand im Gesundheitswesen statt, und daher war es sinnvoll, in der Gesundheitspolitik einen Schwerpunkt zu setzen.

Und im Falle Argentiniens haben wir den Arbeitsschutz als Schwerpunkt, weil in Buenos Aires das ILO-Büro für Lateinamerika gegründet wurde: Nachdem Südamerika zunächst von Madrid aus administriert wurde, zog die ILO mit einem eigenen Büro nach Buenos Aires um und war dort präsent. Um diese Entwicklung und deren Folgen im Projekt abbilden zu können, haben wir diese Trennung vorgenommen. Hieraus ergibt sich ein vollständigeres Bild als wenn alle Entwicklungen in allen Ländern nachvollzogen werden.

Simon Gerards Iglesias: Die Trennung hilft uns auch, damit wir trotz des großen Zeitraums die geschichtswissenschaftliche Lupe d.h. diesen analytischen Zugang anwenden können. Das geht nur bei thematischer Aufteilung. Zum Arbeitsschutz: In Argentinien gab es ein wichtiges Gesetz im Jahr 1915, das den Arbeitsschutz für IndustriearbeiterInnen neu definierte: Es regelte Schadensersatzregelung für Arbeitsunfälle und räumte der Arbeiterklasse erstmals ein wichtiges einklagbares Recht zur monetären Entschädigung ein, was ein großer Schritt zur späteren Sozialversicherung war. An dieses Gesetz haben sich viele Regelungen angeschlossen, auch viele bilaterale Abkommen mit europäischen Staaten wurden daraufhin geschlossen. Dieses Beispiel zeigt, dass Sozialpolitik im frühen 20. Jahrhundert viele transnationale Verflechtungen hatte und in einer frühen Phase der Entwicklung des Wohlfahrtsstaates bereits Rechte für Minderheitengruppen, wie etwa ausländischen ArbeiterInnen eingeführt wurden.

Delia González de Reufels: In Argentinien rückt die Arbeit einer supranationalen Organisation in den Vordergrund, die beide Bereiche- Arbeit und Gesundheit- betrachtet hat. Für den Gesundheitsschutz hätten wir die PAHO, gegründet 1902, in den Mittelpunkt stellen können. Allerdings begann in Chile begann die Gesundheitspolitik deutlich früher und war eng verknüpft mit der Professionalisierung der Medizin, die uns hier besonders interessiert hat, weil sie für die Entwicklung der Public Health von großer Bedeutung war. So haben wir schon Geschichte vor der Gründung der PAHO, die einzufangen ist. Und besonders wichtig ist, dass die ILO Themen aufgreift, die vorher seitens des Gesundheitsschutzes schon diskutiert wurden. Durch unsere Aufteilung im Projekt haben wir diese Dynamik einfangen können.

Auf welche anderen, großen Einflussfaktoren oder Mechanismen für sozialpolitische Entwicklungen seid ihr bei eurer Arbeit gestoßen?

Delia González de Reufels: Es hat sich bestätigt, dass sich die Länder gegenseitig aufmerksam beobachtet und auch voneinander gelernt und Initiativen der anderen aufgegriffen haben. Es gab eine intrinsische Motivation auf den als wichtig erkannten Feldern durch eigene Maßnahmen hervorzutregen, es gab aber auch in einem Wettbewerb untereinander. Argentinien und Chile beobachteten sich sehr genau, obwohl ja in der Region mit Uruguay ein Nachbar vorhanden ist, der sehr reformaffin war und sich selbst sehr über den sozialpolitischen Fortschritt definiert hat. Trotzdem war der Blick der Chilenen und Argentinier aufeinander gerichtet. Und natürlich nach Europa.

Simon Gerards Iglesias: Die Argentinier schauten ebenfalls in viele Richtungen, immer aber auch nach Europa. Die Argentinier sahen sich eigentlich nicht als Lateinamerikaner, sie betonten immer ihre besondere Verbindung nach Europa. Das sieht man in der Mode, der Architektur und so weiter. Europa ist dann auch in der Sozialgesetzgebung ein wichtiger Referenzpunkt. Spanien wird nicht als alte Kolonialmacht gesehen, und wenn, dann als positive, die mit den sogenannten „Leyes de Indias“ die ersten Sozialgesetze eingeführt hat. Argentinien wusste, dass es nicht so industrialisiert war wie Europa, gleichzeitig wollte es so werden und schaute sich viele Dinge ab - die Industrialisierung, aber auch die damit zusammenhängende Sozialgesetzgebung.

Was wichtig ist in Bezug auf die Rolle der ILO: Ich habe den Eindruck, dass die Konventionen und Empfehlungen gar nicht so einen großen Einfluss auf die nationalen Sozialgesetzgebungen haben. Es besteht das klassische Problem internationaler Kooperation: Man einigt sich nur auf den kleinsten gemeinsamen Nenner. Dadurch sind viele Konventionen relativ schwach und schwammig, sie lassen viel Interpretationsspielraum zu, ohne wirklich einen höheren Standard zu etablieren. Das gilt für Argentinien ganz deutlich. Dort wurden Konventionen erst sehr spät ratifiziert und nur in gewissen Bereichen umgesetzt. Es gab ein cherry picking von Konventionen für die Bereiche, wo es bereits sehr ausgefeilte Gesetze gab. Dadurch wirkten sich die Konventionen meist weder positiv noch negativ auf die argentinische Gesetzgebung aus.

Dennoch war die ILO ein ganz wichtiger Akteur: Und zwar als Plattform und Scharnier zur Wissensgenerierung in der Sozialpolitik. Die ILO war als erste und damals einzige Organisation in der Lage, große vergleichbare Studien durchzuführen. Sie hatte auch eine riesige Bibliothek und Archive aufgebaut, die von Argentiniern benutzt wurden. Das sieht man auch in den Korrespondenzen. Gerade im Bereich der Sozialversicherung wurde sehr viel bei der ILO angefragt, weil sie einen unfassbar großen Wissensschatz aufgebaut hatte.

Ihr berichtet, dass diese Länder sehr stark auf ihre Nachbarn und Europa geschaut haben. Die Welt war damals nicht so vernetzt wie heute. Was waren denn die Wege des Austausches?

Delia González de Reufels: Die Welt war damals viel vernetzter, als wir uns das heute vielfach vorstellen. Damals gab es enge Verbindungen, nicht per Flugzeug, sondern per Schiff. Wenn wir uns die Organisationen, aber auch die Militärs anschauen, so waren das hochmobile Persönlichkeiten, die reisen und Dinge in Europa eigens in Augenschein nehmen konnten. Das gilt auch für Ärzte. Ideen reisen mit den Menschen, sie reisen auch in Schriften. Die Akteure haben Französisch gelesen, Deutsch, Englisch und auch Italienisch. Gerade die Ärzte haben ein breites Spektrum europäischer Sprachen beherrscht, um die Fachzeitschriften rezipieren zu können und auf dem jeweils neuesten Stand ihrer Disziplin zu sein; zumindest gilt das für die Koryphäen. In der ältesten und bis heute veröffentlichten Mediziner-Zeitschrift, fand sich daher auch immer eine Art Reader's Digest, der zusammenfasste, was gerade in internationalen Fachzeitschriften diskutiert wurde. So konnte die gesamte Ärzteschaft an den medizinischen Fortschritten teilhaben. Zum Teil hat man den Eindruck, die Autoren stehen dabei, wenn Robert Koch wieder eine Entdeckung macht, ihre Begeisterung darüber ist den Texten ebenso zu entnehmen wie der Stolz auf die eigene Disziplin, die sich beständig fortentwickelte und zur Lösung der Probleme der Zeit in Chile und anderenorts einen Beitrag leisten würde.

Simon Gerards Iglesias: Auch von Seiten der ILO gab es zahlreiche Versuche, stärker auf diese südamerikanischen Länder einzuwirken, Menschen zu erreichen und in die Diskurse hineinzukommen. Das beginnt mit spanischsprachigen Publikationen in den 1920er-Jahren. Dann gab es Reisen von ILO-Präsidenten, von Albert Thomas und Harold Buttler und anderem ILO-Personal, die alle nach Argentinien, Uruguay und Chile reisten, um dort die Arbeit der ILO vorzustellen und für ihre Organisation zu werben. Auf der anderen Seite gibt es Interesse und Engagement von den nationalen Behörden: Die argentinische Arbeitsbehörde veröffentlicht in ihrem Bulletin Unterlagen von ILO-Konferenzen und deren Protokolle werden ins Spanische übersetzt. Diese Zeitschrift wurde Sozialpolitikexperten in Argentinien gelesen, und so trug man die Debatten und das Wissen nach Argentinien hinein.

Argentinien war für die ILO immer das wichtigste Land, um ganz Lateinamerika zu erreichen. Das lag daran, dass- wie Delia schon sagt- Chile nach Argentinien schaute und die kleineren Länder erst recht. Deswegen wählte man z.B. Alejandro Unsain, einen Sozialrechtler aus Argentinien, in ein Gremium der ILO, ins Präsidium. Auch die erklärte Feministin und Sozialistin Alicia Moreau de Justo wird als einzige Repräsentantin aus einem Land der Südhalbkugel Mitglied der Kommission für Frauen und Kinder. Man hat also versucht, argentinische Akteure einzubeziehen, nach Genf zu holen und so den Austausch und die Wissensproduktion gefördert.

Delia González de Reufels: Argentinien hatte der ILO als entwickeltes Land auch eine besondere Infrastruktur zu bieten. Das gilt auch für Chile. So fand dann in den 1930er-Jahren eine große ILO-Tagung in Santiago statt. Chile hat es genossen, dass die Welt auf Santiago schaute. Das ließ man sich auch etwas kosten, auch in Zeiten, als das Geld knapper war.  Das gilt auch für die Kongresse der Lateinamerikanischen Mediziner, deren Idee in Chile entwickelt wurde. Zugleich richtete das Land den ersten Kongress aus, der eine Weiterentwicklung des ersten chilenischen Medizinerkongresses darstellte. So waren die nationale Entwicklung und die transnationale eng miteinander verwoben.

Wir haben feststellen können, dass es immer wieder ereignisreiche Zeitabschnitte gab, die sowohl vom transnationalen Austausch als auch von Entwicklungen in den Ländern getragen wurden. Weder das eine noch das andere allein reicht aus, um eine Erklärung für die Dynamik sozialpolitischer Entwicklungen zu finden. Es gab immer eine Verbindung zwischen der transnationalen und nationalen Ebene. Erst dadurch entstand eine Dynamik, die sozialpolitische Veränderung ermöglichte. Das gilt für alle Bereiche.

Ihr habt vom eurem geschichtswissenschaftlichen Lupenblick gesprochen, ihr seid dennoch Teil des politikwissenschaftlichen SFB. Was war herausfordernd an dieser Konstellation und was war besonders gewinnbringend?

Delia González de Reufels: Herausfordernd ist, dass andere Beobachtungsräume zeitlicher Art entworfen werden. Die Geschichtswissenschaft ist immer ganz nah an der Quelle, und man sieht dann mitunter auch das größere Bild nicht, sondern muss sich das erstmal erarbeiten. Wir sind meist längere Zeit im Archiv, bevor wir daran gehen können, an Quellen unsere Theorien zu falsifizieren und Aussagen zu treffen. Da sind die die Kolleg*innen der Politikwissenschaft sehr viel schneller. Aber der SFB ist ja nicht aus dem Nichts gestartet. Es gab Jahre der Vorarbeit, es ging auch darum, eine gemeinsame Sprache zu entwickeln, unsere Perspektiven zu vereinen und voneinander zu lernen. Das macht es für mich bis heute so spannend. Wir kommen übrigens überwiegend zu ähnlichen Ergebnissen und ergänzen uns darüber hinaus sehr gut, obwohl wir anders auf die Dinge draufgucken.

Simon Gerards Iglesias: Ich denke, die Politikwissenschaft fokussiert sich sehr auf Methoden, z.B. die causal mechanisms, die wir uns auch erst aneignen mussten. Wir hingegen haben diesen Quellenblick, und es dauert dann meist länger, bis wir Ergebnisse vorweisen können. Aber es ist eine sehr bereichernde Kooperation. Ich habe viel gelernt und konnte z.B. Theorien zu internationalen Beziehungen gut für meine Dissertation verwenden.

Kommen wir zu einem unschönen Thema: Wie hat sich denn die Corona-Pandemie auf euer Projekt und eure Recherchen ausgewirkt?

Delia González de Reufels: Es ist wirklich bitter: Wir haben Reisemittel, die wir nicht verwenden können. Zurzeit ist vollkommen offen, wann wir wieder reisen dürfen. Und anders als viele Kolleg*innen hängen wir am gedruckten Wort: Wir müssen in die Bibliothek und in die Archive. Man kann sich zwar behelfen: Durch einen Kontakt in eine chilenische Bibliothek konnte ich etwas Material digitalisieren lassen und so an Quellen kommen. Aber das ist natürlich nur ein Ausschnitt und kann die eigene, wochenlange Archivarbeit nicht ersetzen. Denn man muss von der Ferne aus genau wissen, an welcher Stelle in welcher seriellen Publikation etwas Relevantes zu finden ist. Und man muss sich darauf verlassen, dass bei der Digitalisierung kein Fehler passiert und die Bestände vollständig sind.

Simon Gerards Iglesias: Zum Glück war ich vor zwei Jahren, gleich zu Beginnen meiner Dissertationsphase, in Argentinien und konnte dort Material sammeln. Seit Beginn der Pandemie im März 2020 hat die ILO nämlich niemand mehr in ihr Archiv gelassen, was schade ist und letztlich auch ein bisschen unverständlich. Das ist ein Riesenproblem. Wir haben so kaum ILO-Archivmaterial sichten können, nur solches, das bereits digitalisiert ist. Das ist zwar viel, aber darunter sind keine Korrespondenzen, Briefe und informelle Berichte. Dabei sind es gerade diese inoffiziellen Quellen, für die wir uns als Historiker*innen so interessieren. Und hoffen wir immer noch auf eine zeitnahe Öffnung, die eine Sichtung des Archivmaterials erlaubt.

Welche Veröffentlichungen sind trotz allem noch von euch zu erwarten in den nächsten Monaten?

Delia González de Reufels: Demnächst erscheint ein Working Paper, das die Ergebnisse meiner Forschungen und der von Mónika Contreras präsentiert und zur Diskussion stellt. Hier geht es um das Feld des Social Housing und wie sich das auf eine besondere Berufsgruppe auswirkt: die Carabineros de Chile. Das ist eine militarisierte und zentralisierte Polizeieinheit, die 1927 durch einen Zusammenschluss verschiedener anderer Polizeien entstanden und in ganz Chile präsent ist. Diese neue nationale Polizei war schnell in der Lage, dieses Gesetz zu nutzen, um sich als Arbeitgeber attraktiv zu machen und die Wohnungsmisere in Santiago für die Angehörigen der eigenen Einheit positiv zu wenden. Wohnen ist ja mehr als ein Ort der Unterbringung, es hat Auswirkungen auf das Familienleben, die Gesundheit, auf das soziale Gefüge. Außerdem habe ich noch zwei Aufsätze im in der Pipeline, für die ich auf Archivmaterial zurückgreifen kann, das ich vor Corona in Chile und der Conway Medical Library in Boston sammeln konnte.

Und als Teilprojekt sind wir an einem Band beteiligt, zu dessen Herausgeber*innen ich gehöre: Der Band hat das Ziel, die Breite und Dynamik der globalen sozialpolitischen Entwicklung in den Blick zu nehmen und wir sind dort auch mit eigenen Beiträgen beteiligt. Es hat Spaß gemacht, einige Ergebnisse unsere Arbeit in kurzer und prägnanter Form für unsere Länder zu präsentieren.

Simon, wann wirst du deine Promotion abschließen?

Simon Gerards Iglesias: Ich werde voraussichtlich im Spätsommer fertig. Die Veröffentlichung wird dann etwas später, d.h. nach dem Kolloquium erfolgen. Ich habe auch noch viel Material und Quellen, die ich bisher nicht gebraucht habe. Basierend darauf werde ich noch Artikel schreiben, aber das steht erst im zweiten Halbjahr an.


Kontakt:
Simon Gerards Iglesias
Prof. Dr. Delia González de Reufels
SFB 1342: Globale Entwicklungsdynamiken von Sozialpolitik, Institut für Geschichtswissenschaft / FB 08
Universitäts-Boulevard 13
28359 Bremen
Tel.: +49 421 218-67200
E-Mail: dgr@uni-bremen.de

Teresa Huhle und Johanna Kuhlmann berichten im Interview von einem 6-tägigen Seminar zu Sozialpolitik im Globalen Süden, das sie während der Frühjahrsakademie der Studienstiftung des deutschen Volkes geleitet haben.

Die SFB-Mitglieder Teresa Huhle und Johanna Kuhlmann haben vom 20. bis 25. März 2021 eine Arbeitsgruppe der Frühjahrsakademie der Studienstiftung des deutschen Volkes geleitet. An dem sechstägigen Seminar zum Thema „Sozialpolitik im Globalen Süden – Ein interdisziplinärer Perspektivwechsel“ haben 13 Studierende aus unterschiedlichen Disziplinen teilgenommen. Im Interview erzählen Huhle und Kuhlmann, wie die Akademie gelaufen ist.

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Wer war zu der Akademie zugelassen?

Johanna Kuhlmann: An der Akademie konnten Stipendiat*innen der Studienstiftung teilnehmen, die eher am Beginn ihres Studiums sind. Wir hatten 13 Studierende vom ersten bis zum sechsten Semester.

Teresa Huhle: Der Zugang war auf keine Disziplin beschränkt. So hatten wir dann einen bunten Mix: ungefähr die Hälfte kam aus den Sozialwissenschaften, dazu kam eine Historikerin. Die anderen studieren Jura, VWL, Medizin, Physik und Philosophie.

Wie war euer Seminar konzipiert?

Huhle: Wir hatten fünf inhaltliche Arbeitstage – nach einem Einführungstag stand jeder Tag unter einem thematischen Schwerpunkt: koloniale Sozialpolitik, Internationale Organisationen, Entwicklungspolitik als Sozialpolitik und schließlich Propaganda und Verhaltenspolitik. Tag sechs war einem Rückblick und der Vorbereitung einer Präsentation für den gemeinsamen Abschlussabend der Akademie gewidmet. Zur Vorbereitung hatten die Teilnehmer*innen pro Tag zwei bis drei Texte zu lesen. Aber die einzelnen Tage haben wir dann variabel gestaltet und die Themen in sehr unterschiedlichen Formaten bearbeitet.

Kuhlmann: Gerade auch mit Blick auf das digitale Format wollten wir die Teilnehmer*innen aktivieren. Das hat auch gut geklappt. Zwei Dinge als Beispiel: Wir haben eine Plenardebatte gemacht zu Sozialpolitik als Entwicklungspolitik, in der sich die Teilnehmer*innen in einer Art Rollenspiel in verschiedene Charaktere hineinversetzt haben. Ein anderes Mal haben wir eine sozialpolitische Maßnahme im Detail diskutiert: Welche Gründe und Argumente kann man für oder auch gegen die Einführung eines bestimmten Programms anführen und wovon hängt letztlich die Entscheidung ab.

Huhle: Am Tag zu Propaganda ging es in einem Text um Gesundheitsfilme, die 1943/1944 von Disney in den USA für Lateinamerika produziert worden waren. Einen der Filme konnten wir uns gemeinsam anschauen und haben ihn anschließend diskutiert. Bei den Formaten haben wir auf Abwechslung geachtet. Das hat gut funktioniert – die Studierenden waren alle sehr motiviert und hatten Lust, in Gruppen zu arbeiten und zu diskutieren.

Anhand welcher Kriterien hattet ihr die Texte ausgewählt, die als Grundlage für jeden Tag dienten?

Kuhlmann: Weil wir den historischen und politikwissenschaftlichen Zugang kombinieren wollten, mussten wir Texte finden, die zueinander sprechen – sei es, weil sie sich ergänzen oder auch widersprechen. Uns war auch die Zugänglichkeit der Texte wichtig. Wir hatten ja auch fachfremde Studierende im Seminar. Dass diese überfordert sein könnten, war aber eine unbegründete Sorge.

In dem Seminar ging es euch um einen Perspektivwechsel – bezog sich das auf die Perspektive Nord-Süd oder auf die fachliche Perspektive?

Huhle: Wir haben das bei der Ankündigung des Programms eher von den Fachdisziplinen her gedacht. Aber wir haben schnell gemerkt: Was die Studierenden angezogen hat, war nicht die sozialpolitische oder historische Perspektive, sondern die Kategorie "Globaler Süden". Alle hatten Interesse an Fragen von globaler Ungleichheit, kolonialen Strukturen und deren Fortwirken usw. Viele waren auch schon länger im Ausland, u. a. im Freiwilligendienst. Erfreulicherweise haben aber zum Abschluss einige gesagt, dass es für sie besonders interessant war, Einblicke in unsere geschichts- und politikwissenschaftliche Arbeitsweise zu bekommen.

Ihr hattet Teilnehmer*innen aus einer Reihe unterschiedlicher Fächer – die Spanne reichte von Physik über Philosophie bis Jura – konnten diese trotzdem miteinander, in einer "gemeinsamen Sprache" sprechen?

Kuhlmann: Ja, das hat erstaunlich gut geklappt. Wir haben meistens gar nicht gemerkt, wer welches Fach studiert.

Huhle: Der Physikstudent hat uns einmal darum gebeten, Fachbegriffe nicht einfach zu verwenden, ohne sie zu erklären. Sonst gab es keinen Moment, in dem die Fächerzugehörigkeit zur Sprache kam. Das lag sicher daran, dass alle sehr motiviert und interessiert waren. Aber vielleicht spielt auch eine Rolle, dass die Schulzeit der Teilnehmer*innen noch nicht lange zurückliegt. Sie kommen ja gerade erst aus einem System, in dem es völlig selbstverständlich ist, sich mit ganz unterschiedlichen Themen zu beschäftigen.

Was habt ihr als Seminarleiterinnen aus dem Kurs gelernt, was nehmt ihr mit?

Kuhlmann: Im Seminar haben Studierende aus ganz verschiedenen Fächern Gedanken aus ihren Perspektiven eingebracht. Das hat mich inhaltlich besonders angesprochen: Dadurch habe ich über Fragen nicht nur aus historischer oder politikwissenschaftlicher Perspektive nachgedacht, sondern zum Beispiel auch aus volkswirtschaftlicher oder juristischer.

Huhle: Das Seminar war sehr intensiv und hat für alle sehr viele Denkanstöße geliefert. Das würde ich sehr gern wieder machen. Und ganz pragmatisch: Es war eine tolle Übung für die Online-Lehre, wir konnten ganz verschiedene Dinge ausprobieren. Präsenz kann natürlich nicht ersetzen werden, aber es ist trotzdem gelungen, über die Woche ein Gruppengefühl herzustellen. Ich habe das Gefühl, ich habe im Laufe der Woche 13 Menschen tatsächlich kennengelernt. Und das finde ich sehr schön.


Kontakt:
Dr. Teresa Huhle
Dr. Johanna Kuhlmann