Prof. Dr. Delia González de Reufels (Foto: Steven Keller)
Prof. Dr. Delia González de Reufels (Foto: Steven Keller)
Delia González de Reufels erklärt im Interview, warum sich Lateinamerika zum Hotspot der Covid-19-Pandemie entwickelt hat und welch unterschiedliche Strategien die Länder verfolgen, um ihr zu begegnen.

Südamerika ist ein Hotspot der Covid-19-Pandemie. Wie beurteilst du die Situation?

Die WHO hat erst in diesen Tagen den amerikanischen Doppelkontinent zum neuen Hot Spot der Pandemie erklärt, und die Lage ist wirklich erschreckend. Anders als in Ecuador, wo der erste Fall bereits Ende Februar im Zusammenhang mit einem Verwandtenbesuch einer in Madrid lebenden Frau aufgetreten ist, wurden Corona-Infektionen in vielen Ländern erst Mitte März verzeichnet. So hatte man überwiegend mehr Zeit, sich auf den Ausbruch vorzubereiten als beispielsweise Europa und die USA. Diese wertvolle Zeit ist aber vielfach nicht genutzt worden bzw. konnte nicht genutzt werden.

Wie erklärst du dir das?

Es mag banal klingen, aber eine der Erklärungen ist, dass angesichts einer drohenden Pandemie nicht plötzlich alle Versäumnisse der Vergangenheit im Gesundheitswesen behoben werden können. Die Corona-Krise legt die Schwächen der Gesundheitssysteme und der allgemeinen Infrastruktur sowie das Ausmaß an Korruption offen. Zugleich verstärkt die Krise die bestehende soziale Ungleichheit, politische Probleme und Spannungen. Um nur ein infrastrukturelles Versäumnis zu nennen: Nicht überall sind alle Haushalte mit Trinkwasser versorgt. Wer zum Wasserholen aus dem Haus muss, trifft dort Nachbarn und wird zwangsläufig mit vielen Menschen in Kontakt kommen. Auch jahrzehntelange Einsparungen im Gesundheitssektor, und hierfür ist Mexiko ein gutes Beispiel, wirken sich unmittelbar negativ aus. In Mexiko sind die öffentlichen Ausgaben für Gesundheit trotz wachsender Bevölkerung gleich geblieben. Seit Jahren betrugen sie knapp 3% des Staatsbudgets. Wenn man das in Beziehung zu den Ausgaben anderer Staaten der Hemisphäre setzt, geben nur Guatemala und Venezuela weniger für die Gesundheit aus. Das steht in deutlichem Kontrast zur Bedeutung, die Mexiko dem Gesundheitssektor früher beigemessen hat. Immerhin hatte das Land ab den 1940er Jahren massiv in öffentliche Gesundheit und in Sozialversicherung investiert.

Ein weiterer Grund, weshalb die Pandemie viele Länder Lateinamerikas so hart trifft, ist der Populismus einzelner Regierungen. Hier wurde nicht versucht, der Pandemie frühzeitig und gezielt zu begegnen, vielmehr wurde die Gefahr des Corona-Virus sehr lange heruntergespielt. Das gilt auch für Mexiko. Der Präsident Andrés Manuel López Obrador hat zu Beginn der Pandemie zum Beispiel bei einer Kundgebung auf eine entsprechende Frage hin kurz in die Jackentasche gegriffen und zwei Heiligenbildchen herausgeholt. Er hielt diese hoch und behauptete, sich gut geschützt zu fühlen. Ihm könne, so erklärte er, nichts passieren. Damit wich er tatsächlich der Frage nach Maßnahmen der Regierung gegen die Pandemie aus und gab den einfachen Mexikanerinnen und Mexikanern das Signal, einer von ihnen zu sein; mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen zum neuartigen Virus beschäftige er sich nicht. Er hat sich auch jüngst wieder geweigert, sich auf Covid-19 testen zu lassen, weil er ja keinerlei Symptome zeige. Zugleich signalisiert der Präsident: Diese Regierung sieht keinen Anlass etwas zu unternehmen und zum Beispiel die Testkapazitäten zu erhöhen. Die schlimmen Folgen dieser Haltung können wir in diesen Tagen beobachten.

Auch in Brasilien, wo die Pandemie als Ganzes vom Präsidenten Jaïr Bolsonaro negiert wurde, hat sich das Virus mit dramatischen Folgen verbreitet. Die Provinz Amazonien, die medizinisch unterversorgt ist, hat gerade unter den indigenen Bevölkerungen dramatisch viele Todesopfer zu beklagen. Aber auch in einer Stadt wie Sao Paulo wurden in diesen Tagen die Gräber knapp, die Friedhofsverwaltung wurde angewiesen, vor längerer Zeit Verstorbene zu exhumieren und die Gebeine bis auf weiteres in Containern zu lagern. So soll Platz für die vielen neuen Toten gemacht werden. Zugleich werden die wahren Dimensionen der Krise verschleiert. Die Entscheidung, keine Infektionszahlen mehr veröffentlichen zu wollen, die das Gesundheitsministerium getroffen hat, spricht eine deutliche Sprache. Allerdings ließ sich diese nicht aufrechterhalten, weil die Kritik daran im Land und im Ausland gleichermaßen groß war. Und auch Mexiko hat nicht immer alle Zahlen übermittelt, wie sich aus den Berichten von medizinischem Pflegepersonal ergeben hat. Dieses Personal konnte oft die eigenen Beobachtungen mit den z.B. für die Hauptstadt Mexiko veröffentlichten Zahlen nicht in Einklang bringen.

Gibt es auch Gegenbeispiele, also Regierungen in Lateinamerika, die die Krise ernst genommen und good practice von anderen Ländern übernommen haben?

Im Projekt B02 des SFBs betrachten wir Argentinien, Chile und Uruguay, die als Pioniere im Bereich der Sozialpolitik und der öffentlichen Gesundheit gelten. Und tatsächlich haben alle drei Länder sehr früh weitreichende Maßnahmen ergriffen, die sich in das einreihen, was wir aus Europa kennen und sich offensichtlich an diesen Instrumenten orientiert. Allerdings ist auf der südlichen Halbkugel das Virus im Herbst ausgebrochen, der Höhepunkt des Ausbruchsgeschehens wird in den Winter fallen. Das wird die Krise prägen, alle drei Länder agieren indessen recht erfolgreich:

So hat Uruguay, seitdem der erste Fall laut amtlichen Stellen Mitte März berichtet wurde, erstaunlich niedrige Ansteckungszahlen und wenige Todesfälle verzeichnet. Nach offiziellen Angaben liegt die Todesrate hier bei 0,65 pro 100 000 Einwohner. Das wird vor allem auf den guten Zustand des Gesundheitssystems zurückgeführt, in das die Regierungen der letzten zehn Jahre kontinuierlich investiert haben. Ebenso dürfte die frühe Schließung der Grenzen, der Schulen und die Einstellung des Flugverkehrs sowie das Verbot von Großveranstaltungen entscheidend gewesen sein, indessen gab es keine Ausgangssperren. Nun sollen schrittweise Lockerungen vorgenommen werden, zu denen die niedrigen Ansteckungszahlen die Regierung von Präsident Luis Lacalle Pou ermutigt haben.

Etwas anders verhält es sich in Chile, in dem bislang knapp 3000 Menschen verstorben sind. Hier gelten weiterhin strenge Ausgangsregelungen, Schulen und Universitäten bleiben geschlossen. Einwohner Santiagos dürfen nur an zwei Tagen pro Woche das Haus verlassen und dann auch nur mit Passierschein und zur Erledigung der Einkäufe. Diese strengen Regelungen treffen die prekär Beschäftigten besonders stark und sind auch deshalb problematisch, weil sie eine Zeit der gewaltsamen Proteste gefallen sind. In den sozialen Medien wurde schon gemutmaßt, dass das Virus der Regierung von Sebastián Piñera zu pass käme. Die nun bereits steigende Arbeitslosigkeit verstärkt die soziale Ungleichheit noch, zugleich bewegen sich die Ansteckungszahlen immer noch auf hohem Niveau, so dass Lockerungen in absehbarer Zeit nicht verkündet werden dürften. Auch wird in Chile der Höhepunkt der Corona-Krise noch erwartet. Indessen wurde der glücklose Gesundheitsminister ersetzt, dessen mangelnde Eingriffe in die Medikamenten-Preise ebenfalls in den vergangenen Protesten angeprangert worden waren.

Argentinien hat bislang sehr erfolgreich agiert, wie die knapp 30 500 Infektionen (Stand 14. Juni 2020) zeigen, obschon gegenwärtig die Ansteckungszahlen in Buenos Aires wieder ansteigen. Die strengen Maßnahmen, die das Land ab dem 20. März ergriffen hat, können als Ursache für den bisherigen Erfolg in der Bekämpfung des Virus gelten. Im Bereich der öffentlichen Gesundheit hat die peronistische Regierung von Alberto Fernández schnell und entschlossen gehandelt. Gleich zu Beginn der Krise hatte sie erklärt, in und um Buenos Aires zehn neue Krankenhäuser bauen zu wollen. Das war eine sehr ehrgeizige Ansage angesichts der Auslandsschulden, die das Land zu begleichen hat und die auch den Hilfszahlungen an die Arbeiter Grenzen setzen. Allerdings dürfte dies eine Reaktion auf die Nachrichten aus China gewesen sein, wo angesichts der Dynamik des Ansteckungsgeschehens schnell neue Krankenhäuser errichtet und die zusätzlichen Behandlungsplätze offenbar auch gebraucht worden waren. Weil man erkannt hat, dass städtebauliche Dichte wie in Wuhan oder New York City ein maßgeblicher Faktor bei der Verbreitung der Krankheit ist, hat die Regierung besonderes Augenmerk auf die Metropolregion Buenos Aires gelegt. Das Ausbruchsgeschehen hier hat die Regierung dazu bewogen, die Maßnahme des „social distancing“ bis zum 28. Juni zu verlängern, obwohl andere Regionen mit niedrigeren Ansteckungszahlen flexibler agieren dürfen. So zählte La Pampa während eines Zeitraumes von 65 Tagen keine neuen Fälle, und erst in diesen Tagen wurde überhaupt der sechste Infizierte berichtet, der sofort in Quarantäne ging. Wir sehen also auch hier die Anwendung der bereits in China praktizierten Maßnahmen.

Wenn man sich die Statistik der gemeldeten Fälle anschaut, fällt ins Auge, dass die Länder Lateinamerikas sehr unterschiedlich stark betroffen sind.

Es gibt selbstverständlich einen Zusammenhang zwischen nicht testen und nicht wissen. Gegenwärtig steigen beispielsweise die Ansteckungszahlen in Peru rasant, dennoch muss man von einer ungleich höheren Dunkelziffer ausgehen, die auch die Todesfälle betrifft. Die Menschen versterben, ohne getestet zu werden. Das ist auch in Nikaragua der Fall. Es ist völlig unklar, wie viele Menschen dort an Covid-19 erkrankt und wie viele daran gestorben sind. In den Todesurkunden wird Lungenentzündung als Todesursache angegeben, weil die Patienten schlicht nicht getestet wurden. Dadurch tauchen sie auch nicht in den Statistiken auf. Stattdessen erklärt die Regierung, die vor zwei Jahren Ziel massiver Proteste gewesen ist, man folge dem schwedischen Modell. Die angebliche Übernahme des schwedischen Modells ist aber ein Versuch zu verbergen, dass man gar nicht die nötige Infrastruktur und Ressourcen für ein anderes Vorgehen hat.

Ähnliches hatte Mexiko vor …

Dort hatte der Präsident ebenfalls erklärt, man werde die Krise auch ohne für die Wirtschaft schädliche Maßnahmen bewältigen. Dahinter steckt, dass sehr viele Menschen im Land prekär beschäftigt sind oder im informellen Sektor arbeiten. Was machen im Lockdown all die Straßenverkäufer, die Hausangestellten? Wer keine Ersparnisse hat, kann sich es nicht leisten, zuhause zu bleiben. In einem föderal organisierten Staat wie Mexiko kommt den Gouverneuren der 32 Bundesstaaten allerdings eine große Bedeutung zu, wie sich auch in der Corona-Krise gezeigt hat. Sie haben Lockdowns angeordnet, Schulen und Universitäten geschlossen. Aber z.T. waren da die Ansteckungszahlen schon sehr hoch.

Welche wirtschaftlichen Folgen gibt es für Lateinamerika?

Regelungen, die z.B. Deutschland getroffen hat, mit sehr großzügigen Paketen zur Unterstützung der Wirtschaft und der Arbeitnehmer, können sich die meisten Länder nicht leisten. Die Arbeitslosigkeit ist folglich sehr groß, wobei die Arbeitslosen im informellen Sektor in den Statistiken bekanntlich nicht auftauchen. Als Ergebnis werden die Länder in eine Rezession rutschen, und dann wird sich zeigen, ob das den Glauben an die Demokratie erschüttert und womöglich andere Akteure auf den Plan ruft. In Brasilien gab es bereits die Sorge, dass das Militär als stabilisierender Faktor herbeigerufen werden könnte. Das wäre fatal in einem Land, das eine so lange und brutale Militärdiktatur erlebt hat, die noch immer nicht aufgearbeitet ist.

Gibt es noch andere Besonderheiten am Verlauf der Pandemie in Lateinamerika?

Ein wichtiger Aspekt ist, dass es diesen Ländern vielfach nicht gelingt, das medizinische Personal konsequent zu schützen. So entsteht auf lange Sicht eine Erosion der Leistungsfähigkeit der Gesundheitsversorgung. Es gab erschreckende Berichte vom Beginn des Ausbruchsgeschehens in Mexiko-Stadt - was mir Kollegen bestätigt haben -, als das Krankenhauspersonal angewiesen war, keinen Mundschutz oder ähnliches zu tragen um die BürgerInnen nicht zu verunsichern. Es gab die Sorge, es könne Panik in der Bevölkerung ausbrechen, weil sie begreifen könnte, dass die Pandemie doch gefährlicher ist als von der Regierung behauptet. Das Personal ist jetzt immer noch ungeschützt, weil es keine Schutzkleidung und Masken in ausreichender Zahl gibt. Ärzte und Krankenschwestern berichten, dass sie dieses selbst auftreiben und privat kaufen bzw. Masken mehrfach verwenden müssen.

Die Regierung begreift die Bevölkerung also nicht als mündige Bürger, sondern als Volk, das manipulieret werden muss.

Ja, das sieht man auch daran, welche Länder bereit sind, genauen Einblick in die Zahlen des Ausbruchsgeschehens zu geben. In Brasilien ist zudem der Vorwurf laut geworden, die Lage in Amazonien grenze an einen Genozid. Weil die indigenen Bevölkerungen von den Behörden nicht vor dem Kontakt mit Schmugglern und Goldwäschern und anderen Eindringlingen in ihr Gebiet geschützt werden. Die Bevölkerung war und ist dort medizinisch unterversorgt, hat keinen Zugang zu Ressourcen und keine Lobby. Auch das ist sehr bedenklich.

Absolut, aber es passt leider zu den Prioritäten der Regierung.

So ist es. Brasilien unter Bolsonaro zielt sehr stark auf eine wirtschaftliche Erschließung und Durchdringung des Amazonas auf Kosten der dort lebenden Bevölkerung. Man marschiert sehenden Auges einer menschlichen und ökologischen Katastrophe entgegen.

Wie wirkt sich die Corona-Pandemie auf deine Forschungsarbeit aus?

Ich wollte im März für Archivarbeiten nach Chile fliegen. Die Reise musste ich aber absagen.

Reisen werden noch viele Monate lang schwierig sein. Welche Folgen hat das für euer Teilprojekt?

Wir hatten Glück, dass wir sehr früh Archivreisen gemacht und dabei viel Material gesichtet und gesammelt haben. Zum anderen tun sich aber jetzt, da wir unsere Quellen auswerten, Lücken auf, die wir gern noch schließen würden. Nur ist die Frage, wie wir das bewerkstelligen können. Immerhin werden europäische Quellenbestände jetzt wieder zugänglich. Aber es bleiben die lateinamerikanischen Archivalien, die wir derzeit nicht konsultieren können. Das ist auf jeden Fall eine Belastung, zumal es keine Planungssicherheit gibt. Wir können nicht davon ausgehen, dass wir die Lücken im kommenden Jahr schließen können. Wann die Archive wieder geöffnet sein werden und wir reisen können, ist leider völlig offen.


Kontakt:
Prof. Dr. Delia González de Reufels
SFB 1342: Globale Entwicklungsdynamiken von Sozialpolitik, Institut für Geschichtswissenschaft / FB 08
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