Prof. Dr. Delia Gonzáles de Reufels
Prof. Dr. Delia Gonzáles de Reufels
Interview mit Delia González de Reufels zu den Protesten gegen die Politik der chilenischen Regierung und ersten Ergebnissen ihrer Forschungsaufenthalte in Santiago de Chile.

Chile galt sehr lange als sehr stabiles und wirtschaftlich erfolgreiches Land. Auf einmal kommt es aber zu Massenprotesten mit Gewaltanwendungen vor allem durch die Sicherheitskräfte. Wie ist es dazu gekommen?

Der aktuelle Anlass war eine Erhöhung der Preise im öffentlichen Nahverkehr. Das mag unverständlich erscheinen, allerdings hat Chile im südamerikanischen Vergleich bereits das teuerste Transportsystem. Dazu kommt, dass in der Metropolregion Santiago mit ihren acht Millionen Einwohnern die Distanzen sehr groß sind. Nicht jeder kann dort wohnen, wo er arbeitet. Das Transportsystem wird daher von vielen täglich genutzt und ein beträchtlicher Teil des Einkommens wird allein dafür aufgewendet. Denn wer nutzt öffentliche Verkehrsmittel? Die Chilenen mit Topeinkommen, von denen es viele gibt, sind darauf nicht angewiesen. Es gibt im Großraum Santiago sehr viele Menschen mit kleinen und mittleren Einkommen und die trifft die Preissteigerung sehr hart. Die Unzufriedenheit richtet sich aber auch gegen fehlendes sozialpolitisches Interesse der aktuellen Regierung, die in ihrer zweiten Amtszeit keine neuen Visionen für ein sozial gerechteres Chile hat. Das hat viele enttäuscht, die auf Initiativen in Kernbereichen wie der Altersversorgung, der Bildung, und der Gesundheitsversorgung und Krankenversicherung gehofft hatten.

Trotz des großen wirtschaftlichen Erfolgs des Landes, wenn man auf die Makrodaten schaut, haben offensichtlich nicht alle Bevölkerungsteile davon profitiert. Oder woran liegt es, dass viele Teile der Bevölkerung so arm sind?

Das ist ein interessanter Befund. Auf der Makroebene ist Chile ist ein sehr reiches und prosperierendes Land, es ist OECD-Mitglied und von großen ökonomischen Krisen verschont geblieben. Aber letztlich muss man sich fragen, wer an diesen Entwicklungen tatsächlich partizipiert. Ein sehr großer Teil der Bevölkerung erwirtschaftet lediglich ein Mindesteinkommen und hat steigende Kosten beim Nahverkehr und bei der Miete sowie bei den Heizkosten zu tragen. Auch die Wasserversorgung ist teuer. Chile hat auch noch viele wirtschaftliche Folgen der Politik der Militär-Junta zu tragen, die 1973 durch einen blutigen Putsch an die Macht kam. Zum Beispiel können Energieunternehmen im Winter die Preise für Heizöl anheben. Dies sind Ergebnisse der wirtschaftlichen Reformen, die zu Zeit der Diktatur erfolgt sind und die danach nicht zurückgenommen wurden. Dies hat zur großen Ungleichheiten geführt. Große Teile der Bevölkerung haben den Eindruck, dass sie sich abstrampeln, aber nicht am Wohlstand des Landes partizipieren. Diese Wut hat sich jetzt entladen und dürfte auch nicht so schnell abebben.

Wie sieht das chilenische Sozialsystem aus? Kann es die Armut nicht auffangen?

Chile hat als einer der Pioniere der Sozialpolitik sehr früh und sehr viele Maßnahmen entwickelt und implementiert. Es hat dann aber auch Programme wieder abgeschmolzen, zurückgenommen und auch die Kreise neu bestimmt, die von diesen Maßnahmen profitierten. Auch wenn es zu vielen neuen sozialpolitischen Interventionen gekommen ist, wirkt auch an dieser Stelle die Militärdiktatur nach. Weil sich die Politik nie wirklich der Armutsbekämpfung verschrieben hat, gibt es auch in Chile – wie in vielen anderen Ländern Lateinamerikas – viele Arme. Die Armut wurde billigend in Kauf genommen und hat sich daher fortgesetzt.

Wodurch erklärst du dir das? Da die Militärdiktatur nicht auf die Massen angewiesen war um gewählt zu werden? Da man sie ignorieren konnte?

Ja, und weil die Militärdiktatur zum einen Klientelpolitik gemacht hat und sich zum anderen dem Neoliberalismus geöffnet und die Wirtschaft entsprechend reformiert hat. Dabei spielte auch das Argument eine Rolle, dass eine Diktatur effizienter Reformen durchführen kann, weil sie sich nicht der Zustimmung der Wähler versichern und Prozesse im Parlament etc. abstimmen muss. Menschen sind in der Folge auf der Strecke geblieben. Obwohl das Land auf der makroökonomischen Ebene im südamerikanischen Vergleich ausgezeichnet dasteht und als sehr stabil gilt, gärt es schon lange unter der Oberfläche. Trotz allem ist das Land immer noch sehr attraktiv, es kommen aus den spanischsprachigen Nachbarländern sehr viele Zuwanderer. Chile hat in den letzten Jahren darüber hinaus einen Zustrom aus Haiti verzeichnet, der überwiegend männlich ist und im Stadtbild Santiagos sehr auffällt. Afrokaribische Bevölkerung war bislang in Chile nicht anzutreffen. Auch ist das Land jetzt mit der Herausforderung konfrontiert, Spanisch als Fremdsprache anzubieten, was man bislang bei der Zuwanderung nicht hat berücksichtigen müssen. Darauf ist das Land nicht vorbereitet, auch sehen vielen Chileninnen und Chilenen kritisch auf diese neue Zuwanderung.

Zu deiner Forschung: Du warst jetzt selber vor Ort und hast in Archiven recherchiert. Was hast du dort gefunden?

Ich war in der Nationalbibliothek in Santiago, die ausgezeichnete Bestände aus dem 19. Jahrhundert hat, also der Zeit, die ich auch in meinen Forschungen betrachte. Außerdem war ich im Nationalarchiv, das eine Vielzahl an relevanten Quellen beherbergt. In den Archiven habe ich vor allen Dingen versucht, mir ein Bild von den sozialpolitischen Ideen maßgeblicher Akteure zu machen, ihre Publikationen zu lesen und mich mit denjenigen vertraut zu machen, mit denen sie im Austausch standen. Dabei konnte ich wichtige Lücken schließen und auch mit seriellen Quellen arbeiten, die für meine Forschungsinteressen wichtig sind. Zum Beispiel Zeitschriften, aber auch einzelne Arbeiten, die auch in Spanien nicht in der Nationalbibliothek zu finden sind.

Was sind das für Zeitschriften?

Ich habe zum Beispiel viel mit einer Fachzeitschrift der chilenischen Mediziner gearbeitet. Die Mediziner haben sich sehr früh zusammengefunden und in Santiago eine Zeitschrift nach europäischem Vorbild gegründet. Chile ist bis heute ein stark zentralisiertes Land, und damals gab es nur eine Medizinerausbildungsstätte: die Escuela de Medicina an der Universität Santiago. Alle Absolventen im Bereich Medizin kannten sich folglich, und wünschten sich eine eigene Zeitschrift um zu kommunizieren, welche Entwicklungen es in Chile und in anderen Ländern gab, was in europäischen Zeitschriften erschien und vor allem um darüber zu diskutieren, womit die chilenische Medizin sich beschäftigte und wie die Medizinerausbildung des Landes verändert werden sollte. In dieses Medium wurde also sowohl wissenschaftliches als auch disziplinäres Interesse hineingetragen. Das für mich spannende ist, dass diese Zeitschrift so zu einem wichtigen Forum des Austausches der Ärzteschaft wurde. Hier wurde auch über die Rolle der Medizin in der Gesellschaft diskutiert. Es gibt diese Zeitschrift bis heute, allerdings mit einer deutlichen Konzentration auf fachwissenschaftliche Themen. Sie ist also ohne Unterbrechung, auch in der Zeit der Militärdiktatur veröffentlich worden und wurde zu einem Ort, an den Mediziner verhandelt haben, was sich eigentlich in Chile alles verbessern muss, damit die Menschen gesünder sind. Diese Überlegungen sind auch in die sozialpolitischen Instrumente des Landes eingeflossen.

Lassen sich in deinem Forschungsprojekt zu Chile schon erste Ergebnisse absehen?

Ja: Im Bereich der Sozialpolitik haben wir es mit Akteuren zu tun, die wir auch in Europa antreffen, aber in Ermangelung anderer Akteure in Chile wichtiger werden und andere Wege gehen.

Du meinst die Mediziner?

Ja. Mit ihren Forderungen und Anregungen sind sie nicht weitergekommen – also haben sie selbst sich in den Kongress wählen lassen und sind als Abgeordnete mit dem Anspruch angetreten, Politik in ihrem Sinne zu machen. Im Kongress haben sie selbst Gesetzvorschläge eingebracht und über Gesetze abgestimmt. Dies ist eine Konstante, die wir über das gesamte 20. Jahrhundert sehen. So war der spätere chilenische Präsident Salvador Allende Arzt, hat als Gesundheitsminister gewirkt und 1939 mit dem Band „La Realidad Médico-Social Chilena“ eines der wichtigen Bücher über die sozialen Probleme Chiles geschrieben. Mit diesem Werk hat sich Allende politisch sehr profiliert. Das ist kein Zufall, sondern Ergebnis der großen Nähe der Medizin zur Politik, die in Chile im 19. Jahrhundert aufgebaut worden ist.


Kontakt:
Prof. Dr. Delia González de Reufels
SFB 1342: Globale Entwicklungsdynamiken von Sozialpolitik, Institut für Geschichtswissenschaft / FB 08
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